Materialsammlung Wie war das eigentlich . . . im Mittelalter?

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Viele Leute interessieren sich für das Mittelalter und haben ihr Wissen meist aus den Vorstellungen von Fantasyromanen und Systemen. Wenn sie dann mit dem richtigen Mittelalter konfrontiert sind - das gilt im Übrigen nicht nur für das Mittelalter - dann sind sie meist schockiert und empören sich oder sind plötzlich total desinteressiert - es entspricht halt nicht ihren Fantasievorstellungen.

Man verkennt jedoch auf der anderen Seite, die vorhandenen Umgangsformen und vielfältigen Techniken, die im Mittelalter schon vorhanden waren - es ist eine deutlich bessere Zeit gewesen als die Steinzeit, obwohl Wissen und Techniken der Antike durch die Christianisierung verloren gingen und der Barbarei weichen mußten.

Ich eröffne mal diesen Sammelthread über das Mittelalter mit der kürzlich in den öffentlich-rechtlichen gezeigten Doku

 
Kurze Anmerkung:

Das Wissen und die Technik der Antike ging nicht wegen der Christianisierung verloren.
Die Wissenschaft ist sich nicht darüber schlüssig, was der genaue Grund für den Wissens und vor allem
Bücherverlust in der Zeit der Antike und des frühen Mittelalters gewesen ist,
aber es nur auf die Christianisierung zu schieben wird der Komplexität der einzelnen Theorien nicht gerecht.
 
Also das Wiki unterscheidet nur den unterschiedlichen Werdegang vom Westen und Osten. Im Westen hatten die Adeligen noch für kurze Zeit Zugriff auf die antiken Bücher gehabt. In Ost-Rom gab es später die Angriffe der Araber und Veränderung der Verwaltung (zB. Umstellung der Amtssprache auf Griechisch, Beginnende Gewaltentrennung in Verwaltung und Exekutive) als weitere Auslöser für den Verlust Antiken Wissens.

Um beim Thema zu bleiben hier eine kleine Playlist angefangen mit "Europa im Dunklen Zeitalter":
http://www.youtube.com/playlist?list=PLLvetfsctg7Ibzqay3c9JgFXzkd98X3B_
 
Das ist mit Verlaub gesagt Blödsinn. Man ist sich in der Forschung ziemlich sicher, dass der Verlust des antiken Wissens unmittelbar mit den "Barbareneinfällen", die Rom in die Knie zwangen, in Verbindung steht. Die Kirche, genauer gesagt die Klöster erhielten zT das wenige, was überliefert wurde, da sie die wenigen Schriftgelehrten waren. Die Alphabetisierung setzte in Europa erst sehr spät ein. Mit den Kreuzzügen kam der Humanismus auf, die alten Philosophen wurden wiederentdeckt. Wer war es, der sie verbreitete? Richtig, Kleriker.
 
Die Karolingische Renaissance soll laut Wiki erst später geschehen sein.

Mit Cassiodor († 583) begann der Übergang von der antiken zur monastischen Buchproduktion des Mittelalters, und nach dem 6. Jahrhundert ging mit der zivilen Elite des Westens auch der größte Teil der antiken lateinischen Literatur zugrunde. Erst in der karolingischen Renaissance wurden klassische Texte der Antike wieder kopiert, soweit sie den Niedergang der Literatur zwischen 550 und 800 überstanden hatten.

In "Bücherverlust in der Spätantike" wird deutlich, daß es durchaus Ausnahmen der Regel gab, nichtchristliche Dinge zu zerstören:
http://de.wikipedia.org/wiki/Bücher...C3.B6hepunkt_der_Religionsk.C3.A4mpfe:_um_400
 
Da kann ich Wulf nur zustimmen: Die Christianisierung hatte nichts mit dem Verlust von Wissen zu tun. Der Wissensverlust rührt einfach daher, dass viele Techniken nicht mehr benötigt wurden und die zum Betrieb erforderliche Infrastruktur zusammenbrach. Da infolge von Krieg, Naturkatastrophen und sonstigen Unglücken beständig Aufzeichnungen verloren gehen, müssen beständig neue Abschriften erstellt werden. Keines der Nachfolgereiche Roms (wo ich die RKK jetzt einfach mal hinzuzähle) verfügte über ausreichende Ressourcen, um diese Aufgabe vollständig zu bewältigen. Sie mussten daher priorisieren und sich entscheiden, welche Texte weitergegeben werden und welche nicht. Dabei entschieden sie sich natürlich für die Texte, die aus ihrer damaligen Sicht nützlich waren, und überließen die restlichen ihrem Schicksal. Über einen Zeitraum von Tausend Jahren geht da schon einiges verloren.

Für die Landwirtschaft wird diese Veränderung in Hansjörg Küsters Buch Am Anfang war das Korn - Eine andere Geschichte der Menschheit sehr schön (und amüsant) dargestellt.
 
Vermutungen sind ja schön und gut, aber das Wiki spricht gegen diese Theorie:

Belegt sind systematische Vernichtungen christlicher Schriften während der Christenverfolgung sowie paganer(„heidnischer“) Schriften im Zuge der Christianisierung des Römischen Reiches.

Es gab bestimmt auch noch andere Ursachen, die vielleicht nur indirekt damit zutun hatten.

Vielleicht könnt Ihr ja Eure Vermutungen da in der Diskussion unterbringen, dann wird das unter Umständen geändert ;)
 
Das ist natürlich sehr einfach irgendeine Instanz - die Wikipedia darstellt - in den Wind zu schlagen. Wikipedia ist Teil der neuen Kultur und durch was bitte soll das ersetzt werden? Jetzt könnte man sich natürlich streiten, warum Brockhaus, Meyers oder Bertelsmann Lexikon nicht mehr gekauft werden. Ich glaube dass dieser Rückgang auf Wikipedia zurückgeht. Das sind die renommierten Verlage in Deutschland. Zudem gibt es seit einigen Jahren Behörden, die Wikipedia überwachen.

Der Artikel ist seit 2007 in die Liste der exzellenten Artikel untergekommen und hat im Anhang eine Menge Quellenverweise - die ich persönlich jetzt nicht überprüft habe, aber hier findest Du die Kriterien, die ein Artikel erfüllen muß, um dort überhaupt aufgenommen werden zu können.

Wenn es also wirklich so sein sollte, daß Wikipedia nur Müll erzählt, dann wird es wirklich Zeit für eine Kulturrevolution und Wiederbelebung der alten Vorgehensweisen. Ich kann mich nur daran erinnern, daß es damals ohne Internet noch viel mehr Bücher gab, in denen Müll (zum Beispiel aus der Nazipropaganda) stand, den Wikipedia gerade durch die Vernetzung endlich ausräumen konnte.
 
Die Wikipedia an sich ist nicht schlecht, aber sie ist bloß ein Lexikon: Eine kurze Zusammenfassung von Fakten, die für die Allgemeinbildung hilfreich sind. Ein exzellenter Hintergrundartikel mag noch so gut sein, aber er bietet trotzdem nur einen guten Überblick und keine Detailangaben. Lexikonartikel bleiben auch gezwungenermaßen immer hinter dem aktuellen Stand der Forschung zurück, das heißt sie liefern einen veralteten Konsens - und gerade in der Mittelalterforschung gibt es sei etwa 20 Jahren einen Paradigmenwechsel.

Abgesehen davon hilft es auch, wenn man den verlinkten Artikel auch liest und nicht nur einzelne Sätze daraus zitiert. Denn im Artikel selbst werd direkt nach dem von dir zitierten Satz diverse weitere Gründe genannt, unter anderem eben auch die Infrastruktur, Veränderung des Schulsystems, Senkung der Alphabetisierungsrate, Änderung des literarischen Geschmacks uwm. Ja, auch den Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden fielen viele Bücher zum Opfer - aber dieser Konflikt alleine reicht bei weitem nicht aus, um den gigantischen Verlust zu erklären. Sonst hätte Byzanz einen ebenso starken Einschnitt erleiden müssen wie Westeuropa, dort wurde aber viel Wissen bewahrt, das in Westeuropa verloren ging.
 
Mein Problem mit wikipedia ist ein anderes. Wenn ich das Lexikon des Mittelalters zur Hand nehme, dann weiß ich, das was da drin steht entspricht wissenschaftlichen Standarts, denn die Autoren sind vom Fach. Bei wikipedia können die Autoren vom Fach sein. Oft ist es, dass sie in irgendwelchen Büchern was zu einem Thema gelesen haben und es zT falsch verstehen. Ein Beispiel hierfür wäre ein Artikel aus der Vergangenheit zum KZ Sachsenhausen. Da wurde der Rudolf Höß als Lagerkommandant in Sachsenhausen gelistet, was er nie war. Er war Schutzhaftlagerführer dort. Klingt ähnlich, ist aber was gänzlich anderes. Im Artikel zu Höß stimmte das Eintrittsjahr in die SS nicht. In seiner Autobiographie (Kommandant in Auschwitz) schreibt er, dass er im Jahre xy in die aktive SS kam. Daraus machten die Autoren bzw der Autor des wikipedia-Artikels einfach das Eintrittsjahr in die SS. Das nächste Problem ist häufig, dass jemand ein Buch gelesen hat, es für die wahre Lehre hält und so den Artikel strickt. Was ja auch leicht verständlich ist. Leider bleiben aber dabei die Kontroversen der Forschung auf der Strecke. zB war dies so in dem Artikel über die große Schlacht von Tours und Poitiers 732. Karl Martell schlug ein islamisches Invasionsheer und rettete somit das Abendland. Soweit die konservative Forschung. Der andere Forschungszweig meint, neenee, das war bloß ein besserer Raubzug der Moslems, aber keine aggressive Expansion. Das ist auch durchaus eine legitime Meinung, die ich aus sachlichen Gründen zwar nicht teile, die aber trotzdem sehr wichtig ist. Dummerweise, kamen die unterschiedlichen Meinungen bei Wikipedia nie an. Gerade Themen, die politsche Befindlichkeiten treffen sind mit größter Vorsicht zu genießen. Als grobe Übersicht ist wikipedia toll, für alles weitere kommt man nicht am Besuch der nächsten größeren Bibliothek vorbei.
 
Mein Problem ist vor allem, daß die Quellen nicht vollständig zur Verfügung stehen dürfen, weil irgendjemand "Rechte" an unserem Wissen hat. Teilweise scheint den Autoren und Verlegern das ganz recht zu kommen, daß in Wikipedia Fehler auftauchen - das ist ein Unding. Aber niemand will umsonst sein Wissen weitergeben; dann verkommt so eine freie Enzyklopädie natürlich und gerät in Verruf. Außerordentlich schade!

Auf der anderen Seite halten sich dann dieselben Gelehrten für Vertreter der Wissenschaft und Aufklärung . . .
 
Für die Landwirtschaft wird diese Veränderung in Hansjörg Küsters Buch Am Anfang war das Korn - Eine andere Geschichte der Menschheit sehr schön (und amüsant) dargestellt.

Eine interessante Nahrungsmitteltheorie wird von Jared Diamond vertreten, gab sogar mal eine dreiteilige Doku mit dem Titel:
Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften.

Wenn man sich jedoch anschaut, was ein Religionskrieg für Auswirkungen hat - das geht schon in Richtung Genozid. Der dreißigjährige Krieg wird als einer der schlimmsten Kriege tituliert, obwohl die Religionskriege der ausgehenden Antike über mehrere Jahrhunderte verliefen. In dieser Zeit ist die Infrastruktur natürlich zerbrochen und es hat sich niemand mehr um die "Künste" gekümmert. Nahrungsmittel wurden knapp usw. Daraus jetzt aber abzuleiten, daß ursächlich ein kulturelles Umdenken in der Oberschicht stattgefunden, sich der "Geschmack" der Bevölkerung geändert hatte oder ähnliches, halte ich für unwahrscheinlich. Gewalt ist für mich auf jeden Fall der Auslöser für kulturelle Verluste und ich denke, das leuchtet auch jedem sofort ein
 
Mein Problem ist vor allem, daß die Quellen nicht vollständig zur Verfügung stehen dürfen, weil irgendjemand "Rechte" an unserem Wissen hat. Teilweise scheint den Autoren und Verlegern das ganz recht zu kommen, daß in Wikipedia Fehler auftauchen - das ist ein Unding. Aber niemand will umsonst sein Wissen weitergeben; dann verkommt so eine freie Enzyklopädie natürlich und gerät in Verruf. Außerordentlich schade!

Auf der anderen Seite halten sich dann dieselben Gelehrten für Vertreter der Wissenschaft und Aufklärung . . .

Da man den Umgang mit Wissen erlernen muss, da er einem sonst nichts nutzt, gibt es keinen Mehrwert für die Veröffentlichung sämtlicher Quellen in der Wikipedia, außer das man von Wissen erschlagen wird das man nicht anwenden kann. Abgesehen davon: Wer wirklich Forschen will, der muss verschiedene Ansichten lesen. Da hilft es nicht in die Wikpedia reinzugucken. Ich finde es ganz nett um einen Überblick zu bekommen und in eine Materie einzusteigen. Verstehen geht woanders und sicher nicht mit zweimal googlen.
 
Die Wikipedia an sich ist nicht schlecht, aber sie ist bloß ein Lexikon: Eine kurze Zusammenfassung von Fakten, die für die Allgemeinbildung hilfreich sind. Ein exzellenter Hintergrundartikel mag noch so gut sein, aber er bietet trotzdem nur einen guten Überblick und keine Detailangaben. Lexikonartikel bleiben auch gezwungenermaßen immer hinter dem aktuellen Stand der Forschung zurück, das heißt sie liefern einen veralteten Konsens.
Würde ich beides für Wikipedia nicht so pauschal unterschreiben. Viele Artikel, so auch der hier besprochene, gehen vom Umfang und vom Detailgrad her über einen typischen Lexikonartikel erheblich hinaus. Und aktuell arbeiten kann Wikipedia natürlich sowieso.
Problematisch ist eher, dass sich Wikipedia a) ständig ändert, b) Autoren und ihre Beteiligung nicht in ausreichendem Maße nachzuvollziehen sind und c) etablierte akademische Kritikmechanismen nicht greifen. Außerdem ist Wikipedia dem eigenen Anspruch gemäß - der aber nicht immer eingehalten wird - strikt als Tertiärliteratur zu betrachten.
 
...Wer wirklich Forschen will, der muss verschiedene Ansichten lesen. Da hilft es nicht in die Wikpedia reinzugucken. Ich finde es ganz nett um einen Überblick zu bekommen und in eine Materie einzusteigen. Verstehen geht woanders und sicher nicht mit zweimal googlen.

Sicherlich, über das Internet noch nicht möglich, selbst nur Quellen nachzugehen. Es sperren sich die Rechteinhaber schon, wenn es um so etwas "Banales" wie Handwerkstechniken geht. Man wird das vollständige Wissen darum, nicht oder nur ganz verstreut über das Internet finden - ein Unding. Und dann wundern sich die Leute, warum es einen "dummen Mob" gibt und fordern womöglich noch "mehr Bildung".
 
Sicherlich, über das Internet noch nicht möglich, selbst nur Quellen nachzugehen. Es sperren sich die Rechteinhaber schon, wenn es um so etwas "Banales" wie Handwerkstechniken geht. Man wird das vollständige Wissen darum, nicht oder nur ganz verstreut über das Internet finden - ein Unding. Und dann wundern sich die Leute, warum es einen "dummen Mob" gibt und fordern womöglich noch "mehr Bildung".


Es reicht auch nicht aus einfach nur "irgendwas" dazu zu lesen. Ich kann das nur aus meinem eigenen Metier wirklich anekdotisch berichten - aber - du findest alle Urteile des BGH seit 2000 kostenlos auf der Seite im Netz. Trotzdem reicht es nicht aus die einfach nur gelesen zu haben. Man muss sowas einordnen können, Hintergründe verstehen, Zusammenhänge kapieren. Darum braucht es ein Studium, an der Uni, um das wirklich zu verstehen. Ich wage zu behaupten, dass es für andere Studienfächer ähnlich ist. Und auch für "Handwerkstechniken" braucht es etwas mehr als nur mal ein Video zu sehen. Da dürfte vieles auch Erfahrung sein.

Dazu hat das nichts mit "Rechteinhabern" zu tun - häufig gibt's keine Rechteinhaber bei alten Dokumenten - sondern mit Geld. Wenn du genealogische Forschungen betreiben willst, da gibt's Archive in die du problemlos hineinkommst und alles nachschauen kannst was dein Herz begehrt. Der Kram steht nicht im Internet, weil es Geld kosten würde, Geld das nicht vorhanden ist - und das überflüssig ist, weil, wer wirklich Dinge wissen will, der kann hinfahren und nachgucken.

Darüber hinaus hast du das was ich gesagt habe schlicht ignoriert - "verschiedene Ansichten" heißt nicht "alle Quellen" sondern mehrere Texte aus dem wissenschaftlichen Diskurs (Die man auch verstehen muss, was, wie du hier eindrucksvoll demonstrierst, ja schon bei Forentexten nicht immer einfach zu sein scheint).

Wenn du also wirklich etwas über das Mittelalter lernen willst... Berlin hat ein paar echt gute Museen ;-)
 
Selbst der Museumsbesuch, der löblich und wichtig ist, bringt einen da nicht wirklich weiter. Wir reden hier über einen Zeitraum der sich über knapp 1000 Jahre hinzieht. Mit anderen Worten "das" Mittelalter existiert so nicht. Wir haben verschiedene Abschnitte in einem größeren Zeitraum mit stark abweichenden regionalen Eigenheiten. Man kommt um das Wälzen verschiedener Bücher nicht herum. Selbst Leute, die Mittelalter als Studienfach gewählt haben, kennen sich nur in bestimmten Bereichen wirklich aus. Ich habe mich zB als Nebenfächler hauptsächlich mit der deutschen politischen Landschaft des ausgehenden Hoch- und beginnenden Spätmittelalters befasst. Für den Rest habe ich bei Interesse Übersichtswerke gelesen. Das Unangenehme der deutschen Forschungsliteratur ist die Schreibweise. Ein Laie versteht sie in der Regel schlicht und ergreifend nicht.
 
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