Spiegelscherben

Freako

Der Kriegerpoet
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4. April 2004
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Es lebte einmal eine junge Frau in einer unbekannten, kleinen Stadt. Diese Frau war wunderschön an Gesicht und Gestalt, und viele Männer begehrten sie. Sie war sich dessen bewusst, und jedes Mal, wenn es sie danach verlangte, nahm sie sich den Mann, nach dem es ihr gerade war.

Eines Tages jedoch geschah es, dass die Frau unachtsam war und ihren Spiegel, ihren wertvollsten und liebsten Besitz, umstieß, so dass dessen Scheibe in tausend kleine Splitter zerbarst. Niemals, so dachte sie, könne dieser Schaden wieder gut gemacht werden, und weinte bitterlich.

Da begab es sich, dass ein Freund sie besuchte, ein junger Mann, den sie bereits sehr lange kannte. Insgeheim war er unendlich in sie verliebt, und sein Herz verzehrte sich vor Sehnsucht; doch er hatte es ihr nie wirklich gestehen können, und sie nahm vorlieb mit den anderen Männern, sogar Freunden des jungen Mannes.

Als er sie nun besuchen kam merkte er sogleich, dass etwas nicht in Ordnung war; Er fragte sie, was sie denn bedrücke, und sie schüttete ihm ihr Herz aus. In Tausend Worten erzählte sie ihm, was geschehen, wie der Spiegel, der ihr Ein und Alles, nun für immer zerbrochen worden war.
Der junge Mann hörte ihr aufmerksam zu, und weil er sie so liebte, brannte sich jedes einzelne der tausend Worte in sein Gedächtnis ein.

Des Nachts, als die junge Frau schlief, schlich sich der junge Mann in das Zimmer, in dem der Spiegel stand, und betrachtete die tausend Scherben, wie sie nach dem Bruch immer noch unverändert auf dem Fußboden lagen. Von einem plötzlichen Eifer gepackt trat er hin und begann, sie in den Rahmen des Spiegels wieder einzusetzen. Mit größter Sorgfalt ging er vor, dass auch ja keine falsche Ordnung in das Gebilde kam, das ihr und damit auch ihm so viel bedeutete. Die ganze Nacht lang war er beschäftigt, doch sein Eifer und sein flammendes Herz beflügelten ihn.

Als nun der Morgen kam und die junge Frau erwachte, trat der Mann zu ihr hin, erschöpft, wie er war, doch mit Glück in den Augen; Und er überreichte ihr den Spiegel, zusammengesetzt zu einem einzigen Ganzen aus tausend Splittern, und er beantwortete ihre tausend Worte der Trauer mit einem einzigen, großen Wort der Zuversicht.

Sie strahlte vor Glück, dass ihr Allerheiligstes wieder intakt war und erfreute sich ihres Anblicks im Spiegel. Vergessen war die Trauer, vergessen war der Schmerz; und damit jedoch auch der junge Mann, der einer Antwort harrte, die sie ihm nicht gab. Sie sah es nicht, was in ihm vorging, zu sehr waren ihre Gedanken und Blicke auf sie selbst gerichtet; und so erhob sich der junge Mann schließlich und verließ ihr Haus, um niemals wiederzukehren.
 
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