Schleier [Graue Wirklichkeit 9]

Freako

Der Kriegerpoet
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4. April 2004
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Nach seeeehr langer Zeit endlich mal wieder eine Fortsetzung... vor dem Lesen empfielt sich vielleicht die Lektüre der anderen Teile (die findet ihr wenn ihr auf meine Signatur klickt) ;) Ich hoffe dass die Kenner der anderen Teile das ganze noch nicht vergessen haben und das weiterlesen genießen... die anderen sollens natürlich auch genießen können ;) über kommentare freue ich mich natürlich auch.
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Der Strom aus niederprasselnden, schweren Wassertropfen hatte mittlerweile sintflutartige Ausmaße angenommen. Obwohl Steve versuchte, sich so gut wie möglich unter den verfallenen Vordächern der geduckten, baufälligen Wohnhäuser fortzubewegen, war er bald bis auf die Haut durchnässt. Dazu kamen die manchmal meterlangen Pfützen in dem zerfallenen Asphalt der Straße, auf der sich schon lange kein Auto mehr gefahrlos fortbewegen konnte, dank denen das Wasser Steve manchmal auch in seinen Schuhen bis zu den Knöcheln schwappte. Sein Körper zitterte vor Kälte, doch er bemerkte es kaum. Seine Gedanken waren an einem anderen, weit entfernten Ort, während das Geräusch der Musik aus seinen Kopfhörern das Prasseln des Regens auf den niedrigen Dächern ein Stück weit zurückdrängte. Die Blitze, die von gewaltigen Donnerschlägen gefolgt seine Umgebung in gleißendem Licht erhellten enthüllten eine Menschenverlassene Einsamkeit, die in den engen, schmutzigen Straßen voller Unrat völlig unpassend erschien. Bei diesem Wetter zog es wohl jeder vor, zu Hause zu bleiben.

Zu Hause war es dann auch, wo Steve schließlich ankam. Er blieb eine ganze Weile stehen und sah weiter starr gerade aus, bevor er den Blick hob und erkannte, dass seine Schritte ihn völlig ohne sein Zutun zu dem alten, baufälligen Mehrfamilienhaus gelenkt hatten, in dem er seine Kindheit und den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Und an den er nicht zurückzukommen eigentlich großen Wert gelegt hätte. Doch wenn er jetzt schon einmal hier war... vielleicht schlief seine Mutter, so dass er hineingehen, sich ein wenig aufwärmen, trockene Kleidung und etwas zu Essen finden und dann wieder verschwinden konnte, ohne sich ihrer Gegenwart im Zweifellos betrunkenen Zustand auszusetzen.

Er seufzte leise, nickte dann und schloss die große, doppelflüglige Holztür auf, deren Lack bereits so abgeblättert war, dass sie wie die Mondkraterlandschaft im Fiebertraum eines verrückten Gottes aussah. Das Treppenhaus mit den gelblichen, gesprungenen Kachelwänden und dem mit Rissen durchzogenen Kunststoffboden erstreckte sich vor ihm in die Höhe. Immer noch hatte man die fehlenden Stücke im Holzgeländer der Treppe nicht ersetzt... irgendwann würde sich noch einmal jemand hier zu Tode stürzen. Das Licht der altersschwachen Neonröhren flackerte und war stellenweise ganz ausgefallen, so dass Steve sehr gut acht geben musste wo er auf der abgenutzten Treppe seinen Fuß aufsetzte, während er an den abweisenden, leblosen Wohnungstüren vorbei seinen Weg nach oben antrat. Seltsam dumpf und unheimlich nachhallend klangen seine Schritte auf den vor sich hin verfallenden Stufen.

Im vierten Stock angekommen wandte er sich nach links und durchquerten einen Gang, dessen Boden von zersplitterten Glasflaschen, Unrat, einigen toten Ratten und abgefallenem Putz beinahe unbegehbar war. Doch trotz all dem Schmutz und Dreck waren, so wie überall in diesem Loch, deutliche Anzeichen zu erkennen, dass Menschen hier lebten. Für jemanden, der es nicht gewohnt war, ein schrecklicher Gedanke. Als Steve den Wohnungsschlüssel in das Schloss stecken wollte stellte er fest, dass die Tür von ganz alleine aufschwang. War seine Mutter etwa doch zu Hause? Einen Augenblick lang zögerte er und wollte sich schon wieder zum Gehen umwenden, doch dann seufzte er leise und trat ein. Er war hergekommen, und der Ärger war ihm lieber als eine Lungenentzündung.

Steve öffnete also die Haustür, welche mit einem gut vernehmlichen Knarren aufschwang, und trat in den dunklen Flur. Noch bevor er irgendetwas sehen konnte schlug ihm der Gestank von Schnaps und Zigaretten entgegen, der ihm seit seiner Kindheit so sehr vertraut war. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Halbdunkel, doch er kannte sich hier so gut aus, dass er sich auch ohne zu sehen zurechtfand. Gelegentlich zuckten die Blitze grell auf und sorgten für Augenblicke gespenstisch hellen Lichts, in denen ein Eingangsflur sichtbar wurde, der sich vom Gang draußen kaum unterschied. Überall lag Müll, Gerümpel, mehr oder weniger brauchbare Haushaltsgegenstände und schmutzige Wäsche herum... Genau, wie er es beim letzten Mal zurückgelassen hatte.

Langsam durchquerte er den Flur und trat ins Wohnzimmer ein. Auch hier war es dunkel, kein Licht brannte, aber dennoch konnte er eine kleine, zusammengesunkene Gestalt sehen, die in einer schlafenden Haltung auf einem Stuhl saß, den Kopf auf den Küchentisch gelegt. Seine Mutter... sie schien sich wieder einmal bis zur Bewusstlosigkeit betrunken zu haben. Schon wollte Steve sich abwenden, doch irgendetwas kam ihm seltsam vor. Er nahm die Gestalt im dämmrigen Licht noch einmal genau unter die Lupe... tatsächlich, die Schultern seiner Mutter bewegten sich nicht. Nicht einmal ein kleines Bisschen.

Ein eiskalter Schauer fuhr ihm über den Rücken, und wie in Zeitlupe hob er seine Hand und betätigte den Lichtschalter neben ihm an der Wand. Es dauerte einige Sekunden, bis die altersschwache Neonröhre an der Decke zum Leben erwachte und das chaotische Wohnzimmer in ein gespenstisches, kaltes Licht tauchte. Doch was er dann sah ließ ihn für einen Augenblick alles andere um ihn herum vergessen...

Die Gestalt am Tisch war tatsächlich seine Mutter. Der Tisch quoll beinahe über vor kleineren oder größeren Glasflaschen, in denen sich wohl einmal billiger Schnaps befunden hatte; doch sie waren alle leer. Dieses Bild hätte Steve nicht einmal besonders verwundert... doch das, was an der einzigen freien Stelle des Tisches knapp vor dem Gesicht seiner Mutter lag, ließ eine fürchterliche Gewissheit in ihm reifen. Es war eine Spritze, nicht besonders groß, jedoch leer, und ein kleiner, rußgeschwärzter Löffel. Seine Mutter schien nicht nur von Alkohol abhängig geworden zu sein... und Steve wusste nun, dass sie tot war. Die Dosis musste zu hoch gewesen sein, vielleicht auch wegen dem Alkoholeinfluss letztendlich tödlich.

Er ließ seinen Blick über das Wohnzimmer schweifen, suchte nach irgendetwas, das ihm half, das was vor ihm lag zu verarbeiten, doch er fand nichts. Seine Mutter war tot. Dieser Gedanke verdrängte alles andere aus seinem Kopf.

Er konnte sich an keinen Augenblick in den letzten Jahren erinnern, an dem sie ihm Halt gegeben hatte, an dem sie sich um ihn gekümmert hatte, ihm eine Mutter gewesen war. Da war nur Streit, Alkohol und Verbitterung. Stille Tränen, die im Laufe der Zeit allmählich versiegt waren. Sehnsucht nach Liebe, die es nicht mehr gab, und schließlich eine dumpfe Gleichgültigkeit, die den Schmerz zwar beiseite schieben, jedoch niemals völlig verdrängen konnte.

Mit einem Male wurde Steve klar, dass er nun völlig allein war. So enttäuscht er von dieser Frau auch gewesen sein mochte, sie war der einzige Mensch gewesen, mit dem ihn noch etwas verbunden hatte. Wo sollte er nun hingehen? Was konnte er tun?

Was sollte er denken?

Mit einem Male fühlte er sich unendlich leer, antriebslos und verloren. Ein dumpfer Schmerz in seiner Brust war das einzige wirkliche Gefühl, das er noch wahrnehmen konnte. Ohne sein Zutun machte er ein paar Schritte in den Raum hinein, ohne den Blick von seiner Mutter wenden zu können. Seine Gedanken bildeten einen wirren Knäuel, der seinen Kopf zu zersprengen drohte, und die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. Schließlich gaben seine Beine unter ihm nach, er ließ sich an der Zimmerwand neben dem Fenster hinabsinken und verbarg das Gesicht zwischen den Händen. Eine einzelne Träne rann seine Wange hinab. Sein Herz pochte wie wild, und der Schmerz war zu viel für ihn; je mehr er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, desto hoffnungsloser und trauriger schien ihm seine Lage. Die Erinnerungen an diesen ganzen Tag, an dem seine Welt nun völlig zusammengebrochen war, gesellten sich zu dem Schock über den Tod seiner Mutter; und gerade, als der erste, leise Schluchzer sich seiner Kehle entrang, verlor er das Bewusstsein, und gnädige Dunkelheit umfing ihn.


Er schlief nicht lange, sondern erwachte, als ein besonders heller Blitz draußen aufzuckte und das düstere Licht der alten Neonröhre bei weitem übertraf. Der folgende Donnerschlag klang wie das schlagen eines wütenden Schmiedes auf einen gewaltigen Amboss und half Steve, sein Bewusstsein zurückzuerlangen. Er stellte fest, dass er immer noch zusammengesunken an der Wand saß. Seine Wangen fühlten sich heiß an, seine Augen brannten... er musste im Schlaf geweint haben. Doch seltsamerweise spürte er in diesem Augenblick kein Bedürfnis mehr danach. Der Schmerz schien ihm nun leichter zu ertragen, obwohl er wohl höchstens eine halbe Stunde geschlafen haben konnte und seine Mutter immer noch wie zuvor nur wenige Schritte von ihm tot mit dem Kopf auf dem Wohnzimmertisch lag. Seine Gedanken klärten sich ein wenig, und so absurd es auch war, wurde ihm bewusst, dass er den ganzen Abend nichts gegessen hatte. Sein Magen meldete sich lautstark und fast schmerzhaft zu Wort, und so erhob er sich schließlich und machte sich auf den Weg in die Küche. Seine Beine waren ein wenig zittrig und weigerten sich anfangs, ihn zuverlässig zu tragen. Fast krampfhaft vermied er es, zum Tisch hinüberzusehen.

In der kleinen Küche sah es ähnlich aus wie im restlichen Haus- schmutziges Geschirr stapelte sich gemeinsam mit leeren oder halbleeren Flaschen und stinkenden Resten von schlecht gewordenem Essen.
Er öffnete den Kühlschrank und verzog angewidert das Gesicht. Schnell schloss er die Tür wieder und wedelte hastig mit der Hand vor seinem Gesicht, um den abstoßenden Gestank zu vertreiben. Es war, als hätte monatelang niemand in diesem Haus gelebt.

Resignierend sah Steve sich um und öffnete schließlich ohne große Hoffnung den kleinen Küchenschrank. Wider seiner Erwartung hatte er Glück- eine einsame Konservendose stand in dem ansonsten leeren, staubigen Fach. Er nahm sie heraus, öffnete sie und roch vorsichtig an ihr. Die Nudeln darin schienen noch essbar zu sein, und so zögerte er nicht mehr lange, ergriff eine einigermaßen sauber aussehende Gabel und schlang die willkommene Mahlzeit herunter.

Diese so normale Tätigkeit, die Suche nach etwas Essbarem und das Stillen seines Hungers, halfen ihm ein wenig dabei, seine Situation zu verarbeiten. Er wusste, dass der Schmerz wiederkommen würde, sogar bald... doch für den Augenblick war er einigermaßen klar im Kopf.

Als die Dose vollständig leer war saß er einige Augenblicke völlig still und lauschte in sich und seine Umgebung hinein. Der Regen trommelte immer noch mit Urgewalt gegen die schmutzigen Fensterscheiben, das Donnergrollen schien kein Ende zu nehmen. Doch in ihm selbst herrschte eine beinahe unnatürliche Stille. Es war, als könne er sich von außen betrachten, wie er auf dem Küchenboden saß, den Blick starr geradeaus gerichtet und seine Hände kraftlos im Schoß liegend. Trotz des dumpfen Drucks in seinem Kopf und seiner Brust fühlte er sich seltsam leicht... Es schien, als hätte nichts mehr Bedeutung, nichts mehr Gewicht für ihn. Es war ein seltsames Gefühl von Freiheit; wenn alles gleichgültig war, so konnte man tun, was man wollte. War es nicht so?

Er seufzte schließlich und erhob sich langsam. Seine Schritte lenkten ihn ins Wohnzimmer, wo er vor dem Tisch mit seiner Mutter stehenblieb und nachdenklich auf sie herabsah. Was sollte er nun tun? Sollte er in der Früh die Polizei anrufen, oder das Krankenhaus? Sollte er den Nachbarn Bescheid geben? Was würde aus ihm werden?

Steve wusste es nicht. Er konnte nichts tun. Was würde es ändern? Mit einem Mal hatte er das Gefühl, hier fort zu müssen. Dies war nicht mehr sein Zuhause, war es schon lange nicht mehr gewesen.

Wohin er gehen sollte, wusste er so wenig wie zuvor. Trotzdem verließ er schließlich nach kurzem Zögern das Wohnzimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er schaltete das Licht aus. Als er in den dunklen Flur trat, hörte er ein Geräusch vor sich; das Klicken eines Feuerzeugs. Wer konnte um diese Zeit noch wach sein? Vorsichtig setzte er seinen Weg fort und öffnete schließlich vorsichtig die Eingangstür.

Was er sah, ließ ihn für einen Augenblick seine dunklen Gedanken vergessen. Ein schlankes, äußerst hübsches Mädchen stand in der Eingangstür der Nachbarwohnung und versuchte sich mit mehr Mühe als Erfolg mit einem altersschwachen Benzinfeuerzeug eine Zigarette anzuzünden. Sie trug bequeme, weite Kleidung- wohl so etwas wie Schlafklamotten. Leise musste er lächeln. Valery war die Tochter des Nachbarn, und er kannte sie fast schon sein Leben lang... doch er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Erinnerungen an viele glückliche Augenblicke stiegen in ihm hoch; unbeschwerte, unschuldige Augenblicke, die er mit ihr verbracht hatte. Sie waren sich damals wirklich nah gewesen, doch trotz einiger gemeinsamer körperlicher Erfahrungen war nie mehr als eine Art Freundschaft aus ihrem Verhältnis geworden. Das Feuerzeug, das sie den Händen hielt, hatte einst seinem Vater gehört... Steve hatte es Valery nach dessen Tod geschenkt. Er hatte sich nie etwas aus Zigaretten gemacht, was oft der Grund für gutmütige Sticheleien seinerseits ihr gegenüber gewesen war.

Das Mädchen war so vertieft in ihre Bemühungen, dass sie Steve erst bemerkte, als er die Wohnungstür vollständig öffnete und auf den düsteren Gang hinaustrat. Sie sah hoch und zuckte leicht zusammen, doch fast augenblicklich zeichnete sich Erkennen in ihren großen, tiefblauen Augen ab. Sie schien unschlüssig zu sein, ob sie erstaunt oder erfreut sein sollte, doch ihr Grinsen brachte letztlich beides zum Ausdruck.

„Steve! Was machst du denn hier? Du hast dich ja ewig nicht mehr blicken lassen!“

Er lächelte leicht. Ihre sanfte, wohlklingende Stimme hatte er schon immer gerne gemocht. Sie hatten früher Stunden damit verbracht, einfach nur miteinander zu sprechen. Doch seitdem die Streitereien mit seiner Mutter begonnen hatten, hatte er Valery immer seltener gesehen. Während seiner Beziehung mit Bobo hatte er sie beinahe vergessen; ein wenig regte sich sein schlechtes Gewissen deswegen, doch er wusste, dass sie nicht nachtragend war.

„Ich... war mal wieder in der Gegend, weißt du?“

Etwas anderes fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein, und es schien ihr als Antwort zu genügen. Sie versuchte noch einmal vergeblich, ihre Zigarette anzuzünden und seufzte schließlich ergeben, bevor sie die Zigarette aus ihren schmalen, hübschen Lippen nahm und wieder zurück in die Schachtel schob.

„Vermutlich ist das Benzin leer...“ sagte sie mit einem fast entschuldigend wirkenden Lächeln, das Steve unwillkürlich erwidern musste.

„Du hast es also immer noch... Sonst verlierst du doch auch immer alles!“ feixte er, woraufhin sie ihm gespielt beleidigt die Zunge entgegenstreckte.

„Es gibt halt Ausnahmen. Und NEIN, ich sehe es nicht als eine Gelegenheit, mit dem Rauchen aufzuhören, dass das Benzin alle ist.“

Steve musste leise lachen, denn das wäre sein nächster Kommentar gewesen- ein seit langem feststehender Teil ihrer spielerischen Streitereien um das Thema rauchen. So zuckte er schließlich die Schultern und fragte:

„Was machst du eigentlich um die Uhrzeit noch wach? Ist ja ganz untypisch für dich.“

Valery errötete leicht und sah leicht verlegen zu Boden.

„Naja, meine Eltern sind nicht da, und bei diesem Gewitter draußen... Ich... kann nicht einschlafen. Das solltest du eigentlich wissen.“

Wieder musste er ein wenig lachen; er erinnerte sich tatsächlich an eine kleine, verängstigte Valery, wie sie nachts bei einem Gewitter an seine Wohnungstür klopfte, weil sie alleine war und nicht einschlafen konnte. Ihre Eltern waren oft nicht zu Hause, weil sie Nachtschichten schieben mussten. Und trotzdem waren sie, so gut es ging, immer für ihre Tochter da. Seine Mutter kam ihm wieder in den Sinn, und sein Lächeln gefror, ohne dass er es bemerkte. Er wusste immer noch nicht, was er darüber denken, was er deswegen tun sollte... So viele Dinge kamen zusammen, dass er nicht wusste, mit welchem Schmerz er sich zuerst auseinandersetzen sollte.

„Was ist los? Stimmt was nicht?“ drang Valerys Stimme durch den dunklen Schleier in seinem Kopf zu ihm durch. Er schrak leicht hoch und sah in ihr zierliches, besorgtes Gesicht. Sie war einen Schritt auf ihn zugetreten, hatte die Hände in jener so vertrauten Art in ihren Hosentaschen vergraben und betrachtete ihn nun eingehend.

„Nein... es ist... alles in Ordnung. Ich bin... nur ein bisschen müde. Es war ein harter Tag, heute.“

Er wusste, dass sie seine Ausflucht durchschaute, doch sie ließ es dabei bewenden. Einen Augenblick lang sahen sie sich an, und mit einem Male war da wieder jenes Gefühl vertrauter Nähe, das sie immer in der Gegenwart des anderen gespürt hatten. Es war ein Gefühl, das er bei keinem anderen Mädchen je verspürt hatte; nicht einmal bei Bobo. Es war dafür verantwortlich gewesen, dass er und Valery damals ihre ersten Erfahrungen miteinander gemacht, jedoch gleichzeitig auch dafür, dass sie sich niemals ineinander verliebt hatten. Er verspürte plötzlich das Verlangen, sie zu küssen; Und in ihren Augen sah er, dass es ihr ebenso ging.

Sie trat einen Schritt zurück und drehte sich halb zur Wohnungstür herum.

„Also, weißt du... wenn du... nichts weiter vorhast... Vielleicht kannst du bei mir bleiben? Wenn du da bist, kann ich doch immer... so gut schlafen.“

Ihre Lippen sprachen unsichtbar noch weitere Worte, deren Bedeutung sich in Steves Gedanken wiederfanden. Er lächelte, nickte ihr zu und folgte ihr in ihre Wohnung.


Eine einzelne Kerze war das einzige, was ihr kleines Schlafzimmer mit Ausnahme der Blitze erhellte. Ihr flackerndes Licht fiel auf ihre Körper, während sie sich langsam auszogen. Als seine Finger sanft über ihre Haut strichen spürte er, wie sie eine Gänsehaut bekam. Dann übermannte ihn eine Flut aus den verschiedensten Gefühlen. Er ließ sich vollkommen gehen, hatte keine Macht mehr über sich selbst in diesen Augenblicken. Verlangen, Schmerz, Glück und Trauer vermischten sich, und er klammerte sich einmal so verzweifelt an sie, dass sie erschrocken innehielt und ihn besorgt ansah.
Sie schliefen lange miteinander, während draußen das Gewitter weiter tobte, und als sie sich schließlich erschöpft voneinander lösten schlief Valery fast augenblicklich ein, den Kopf auf seine Brust gelegt und mit einem friedlichen Ausdruck im Gesicht.

Eine Weile betrachtete Steve sie. Sie fühlte sich geborgen bei ihm, und auch er fühlte sich besser, jetzt, wo er bei ihr war... und doch begann ihn ein schlechtes Gewissen zu plagen, als er an Bobo dachte. Es war gerade erst zu Ende gegangen, jene Liebe, die er für unsterblich gehalten hatte, und er suchte Trost und Halt bei einer anderen... Doch mit einem Male wusste er, dass es im Grunde schon von Anfang an zu Ende gewesen war. In diesem Augenblick begriff er diesen Gedanken noch nicht, spürte jedoch, dass er ihn irgendwann verstehen würde.

Obwohl er erschöpft und müde war, konnte er nicht einschlafen, selbst als er eine Weile mit geschlossenen Augen still gelegen hatte. Zu vieles spukte in seinem Kopf herum. Nach einigen weiteren Augenblicken schlug er schließlich die Augen auf, sah Valery noch einen Moment lang an und arbeitete sich dann vorsichtig, um sie nicht zu wecken, unter ihr hervor. Irgendetwas zog ihn hinaus, obwohl dort immer noch das Gewitter über der Stadt tobte.

Leise zog er sich an und verließ schließlich nach einem letzten Blick auf das schlafende Mädchen das Zimmer und die Wohnung. Seine Schritte knarrten auf den baufälligen Holzstufen des Treppenhauses, doch es war immer noch tief in der Nacht, und niemand außer ihm in diesem Haus hörte es.

Als er die große Holztür diesmal von innen öffnete bildete der Regen draußen einen fast kompakten Vorhang aus glitzernden, schweren Tropfen, beinahe so wie der Schleier aus verworrenen Gefühlen, der sich über Steves Denken gebreitet hatte. Es war seltsam, doch so schlimm die Situation für ihn auch war... Er hatte das Gefühl, dass er vielleicht seinen Frieden hier draußen würde finden können.

Er schloss die Tür und trat auf die Straße hinaus.
 
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