RPG als Networking

Durro-Dhun

Erklär(wer)bär
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12. September 2003
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Südfrankreich, genauer gesagt die Provence. Es ist Ende Oktober, die Sonne scheint warm wie üblicherweise im germanischen Juli und eine sanfte Brise lässt die Blätter der dicken Palme im Hotelgarten leise rascheln. Salzgeruch liegt in der Luft. Der Blick auf das Mittelmeer ist atemberaubend. Die Mittagssonne bricht sich in der leichten Dünung und lockt die Seminarteilnehmer hinaus in den Garten. Unweigerlich bilden sich kleine Grüppchen. Deutsche und französische Kollegen, die sich üblicherweise nur vom Telefon kennen, tauschen ein paar Worte aus, um sich besser kennenzulernen oder besprechen die letzte Vorlesungseinheit des Seminars.

Ich bin der Neue. Habe gerade meine erste Arbeitswoche in der Firma angetreten und komme schon in den Genuss einer Dienstreise in die Sonne, raus aus dem deutschen Nebel-Oktober. Ich finde mich in einer kleinen Gruppe wieder und komme mit einem Kollegen aus der Nachbarabteilung ins Gespräch: unsere Studienorte lagen nahe beieinander. Dann die Frage nach den Hobbies. Ich antworte (nach der Nennung von einigen anderen Hobbies) zuerst vorsichtig: „Gesellschaftsspiele und Erzählspiele“, man weiß ja nie, ob der Gegenüber bei ‚Rollenspiel‘ nicht gleich an Ponies, Lackbodysuits und Peitschen denkt. Dann die fast schon freudige Antwort: „Erzählspiele? Rollenspiele? Was denn? D.S.A., Shadowrun? Kennst Du die Wheel of Time - Romane? (…) “ Zwei Nerds haben sich gefunden und es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch über verschiedene Runden, Systeme und Settings, lustige Momente und Anekdoten, Fantasyliteratur und viele, viele (verdammt viele!) Filmzitate. Von ein paar belustigten Blicken der Kollegen abgesehen scheinen die sich davon auch ganz gut unterhalten zu fühlen, zumindest von dem was sie mitbekommen oder verstehen können. Die Gesprächsthemen wandern vom Nerdigen übers Beruflichen ins Familiäre. Gemütliche, ehrliche, halb oberflächlich-kollegiale, halb private Konversation.

Warum ich hier davon schreibe? Nun, eine der nicht enden wollenden oder zumindest immer erneut wiederkehrenden Diskussionen in der Rollenspielgemeinde ist die Frage „Muss man sich für’s Rollenspiel schämen?“, die Diskussion über die gesellschaftliche Anerkennung des Hobbies und die Bereitschaft, sich zu einer gewissen Nerdigkeit zu bekennen, für die das Hobby (teils zurecht) verschrien ist. Zugegeben, in der Rollenspiel-Community gibt es sehr wenige neue Themen und letztendlich dreht sich das Themenkarussel gemütlich und bringt periodisch immer wieder ähnliche Diskussionen zu Tage wie es sie bereits zuvor gegeben hatte. Trotzdem möchte ich mich in diesem Artikel erneut dem Thema widmen. Nicht zuletzt deswegen, weil die ganze Geschichte für mich selbst durchaus positive Auswirkungen hatte (dazu später) und ich diese Erfahrung mit Euch teilen möchte.

Sicherlich gibt es verschiedene Ansätze mit dem ganzen Thema umzugehen, und sicherlich sind diese Ansätze auch vom Umfeld abhängig, in dem man damit auftritt. So verschweigen beispielsweise nicht nur Rollenspieler Bekannten oder Kollegen (wenn es die denn überhaupt etwas angeht) ihr Hobby. Auch Autoren, die im ‚zivilen‘ Leben noch einem anderen Beruf nachgehen, veröffentlichen unter Pseudonymen um nicht von Menschen, mit denen sie in ihrem Broterwerb zu tun haben, mental in die Vorurteilsschublade ‚Rollenspiele und Fantastisches‘ gesteckt zu werden. Das ist alles legitim und angesichts manchmal grenzenloser menschlicher Dummheit gar nicht mal ungeschickt.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass es auf Dauer ungesund ist, nicht zu dem zu stehen, was man gerne tut oder mit dem man sich beschäftigt. Meiner Meinung nach führt eine Tabuisierung und eine damit einhergehende Heimlichkeit immer zu einem Aufbau von Schuldgefühlen. Und die hat nun wirklich niemand verdient, der sich einem Hobby widmet, das nicht nur niemandem schadet, sondern noch dazu so kommunikativ, kreativ, innovativ und sozial förderlich ist, wie das Rollenspiel.
Nicht nur kann man damit seine sogenannten „Softskills“ schärfen, man hebt sich auch ein klein wenig von der breiten Masse ab. Versteht mich nicht falsch, ich möchte hier nicht von einer ‚gesellschaftlichen Elite‘ der Rollenspieler sprechen. Aber gerade in unserer so auf Individualität und Individualisierungsmöglichkeiten bedachten Gesellschaft sollte man auch bezüglich seiner Hobbies die Geisteshaltung „dare to be different!“ vertreten dürfen.

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Am sinnvollsten finde ich persönlich einen Ansatz, den unser User Shadom bei der letztenDiskussion zu diesem Thema zur Sprache brachte: Entscheidend für die gesellschaftliche Akzeptanz einer Person sowie eines Hobbies, dass diese betreibt ist weniger das Hobby an und für sich, sondern wie damit umgegangen und wie dieses vorgestellt wird. Jemanden, der sich mir als „Ich heiße XY und mein Hobby ist übrigens Diesunddas“ vorstellt, gefolgt, von einer ausführlichen Beschreibung des Hobbies bis ins tiefste Detail, den stemple ich nicht nur als Nerd ab, sondern auch als sozial aufdringlich und ein wenig seicht. Und zwar völlig egal, ob es sich bei dem Hobby um Rollenspiel, Fußball, eine ehrenamtliche, caritative Tätigkeit oder Kunstflug mit ferngesteuerten Hubschraubern handelt.
Sicherlich ist auch das abhängig von den Umgebungsbedingungen: Auf einer Rollenspielmesse ist es vielleicht noch halbwegs hinnehmbar und auch begrenzt zu erwarten, dass einem der Gegenüber direkt unterbreitet welche Systeme er gerne spielt. Im ‚zivilen‘ Leben ist es da schon unerheblich, was überhaupt das Hobby ist. Jemand, der sich selbst nur über dieses Hobby definiert und das auch so kommuniziert, der wird eben zwanghaft als Person mit weniger Tiefgang wahrgenommen. Wohingegen es schon fast unerheblich ist, welchem Hobby eine Person frönt, die sich entsprechend vorstellen und sozial einbinden kann. Naja, zumindest solange es kein geltendes Recht verletzt. Ausschlaggebend ist eben der Inhalt, nicht das Etikett.

Unter diesem Aspekt kann man dann auch ein Hobby wie Rollenspiel durchaus für Networking nutzen. Für mich persönlich hatte es nämlich durchaus erfreuliche Nebenwirkungen, den Begriff Rollenspiel zu erwähnen: Durch das Thema als Gesprächsaufhänger hat sich mit betroffenem Kollegen eine lange, angeregte Unterhaltung ergeben und wir haben auch nach dem Seminar noch Kontakt gehalten. Und es war der Tip dieses Kollegen, der mir letztendlich nun nach einem anstehenden Abteilungswechsel einen äußerst interessanten Job und eine Festanstellung eingebracht hat. Manchmal lächeln einem eben die Würfel zu.

In diesem Sinne: Danke, oh ihr Würfelgötter.
Und auch Danke Dir, Michael.


Euer Durro
 

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Ich finde den Bericht faszinierend und würde dort gerne einen eigenen Erfahrungsbericht wiedergeben.
Vor zwei Tagen hatte ich ein Vorstellungsgespräch bei einem sehr viel versprechenden potentiellen neuen Arbeitgeber. Zwar hatte ich mich ausführlich auf das Vorstellungsgespräch vorbereitet und erhielt durch die Personalberatung ein umfassenden Coaching, allerdings wurde ich im Gespräch selbst nervös und musste mitunter einen Teil meiner Antworten doch improvisieren.

Seitens der Person aus der Personalverwaltung kam im abschließenden Gespräch die Frage auf wie ich mit Stress umgehe und wie ich etwaige Belastungen die aus der Firma mit nach Hause genommen werden kompensiere beziehungsweise abbaue. Aufgrund des Umstands das die meisten Hobbies die ich auf der Bewerbung angab eher passive Beschäftigungen sind und ich derzeit keinen Sport nachgehe kam es dazu das ich angab zur Entspannung Pen & Paper Rollenspiele zu spielen. Mit der Betonung auf Pen & Paper um zu vermeiden das der Eindruck entsteht es wären gänzlich unpassende Rollenspiele gemeint.

Tatsächlich bestätigte sich meine erste Befürchtung dahingehend das das Themenfeld des Pen & Paper Rollenspiel den Anwesenden gänzlich unbekannt war. Das wiederum hatte einerseits den Vorteil das es keine negative Prägung gab, andererseits den Nachteil das es nun an mir war zu erklären was man bei einer Rollenspielrunde macht.
Mir erschien hierbei recht offensichtlich das es eine schlechte Idee wäre, würde ich versuchen zu schildern das ich bevorzugt in der Welt der Dunkelheit spiele, und dort das Thema Vampire spannend finde. Dementsprechend schilderte ich Rollenspiel zunächst als kooperatives Erzählspiel, bei dem es darum ginge gemeinsam eine Geschichte zu schaffen. Um dies in einen spielerischen Kontext zu ermöglichen würde es einen Spielleiter geben, dessen Aufgabe es ist das Spielgeschehen zu koordinieren, sowie mehrere Spieler welche sich zuvor Charaktere erstellt hätten, fiktive Personen welche durch die ebenso fiktiven Welt - als Beispiel führte ich die Welt aus Herr der Ringe an, in der Hoffnung das zumindest dieser bekannt ist - bewegt würden. Dabei ginge es darum Herausforderungen zu bewältigen, was über komplexere Spielmechanismen geschehen würde, um den spielerischen Faktor zu erhalten.
Die Erklärung kam mir einerseits erstaunlich flüssig von den Lippen (geschickter als es sich wohl ließt), andererseits schaffte ich es weitestgehend Fachbegriffe, Systembezeichnungen oder andere verwirrende Begriffe zu vermeiden.
So wurde anschließend, auf die gezielte Nachfrage, vertieft wie sich eine Rollenspiel-Runde tatsächlich gestaltet. Das heißt ob man es nur Online spielen würde, und wenn nicht, wie es sich gestalten würde.
Als Fazit des Teil des Gespräch hatte ich den Eindruck das Hobby in einer Art und Weise vermittelt zu haben die einerseits das Grundprinzip verständlich machte. Andererseits schloss man aus der Schilderung das es sich dabei um eine sehr kreative Tätigkeit handelte, was ich hinsichtlich einer Bewertung positiv auffasste.

Insofern schließe ich mich dem Artikel nicht nur dahingehend an das es ungesund ist es zu verschweigen, sondern würde behaupten das es entsprechend ansprechend präsentiert durchaus bereichern kann. Sowohl wenn es darum geht einen markanten Eindruck zu vermitteln als auch eigene Softskills zu demonstrieren. Weniger vielleicht dadurch das man die Softskills direkt erwähnt in dem man so etwas sagt wie "Ich spiele Rollenspiele weil es mich in kreativer Hinsicht fordert, kommunikativ und sozial ist" sondern in dem man es so schildert das die Personen von sich aus erkennen können welche Softskills es erfordert.
 
Nun, es ist halt immer ein "Wagnis" etwas Privates von sich preis zu geben. Damit gibt es natürlich immer die Gefahr, dass man damit bei jemand anderem anecken könnte. Und gerade im beruflichen Umfeld ist das natürlich unhübsch.

Trotzdem habe ich aus meinem Bewerbungsprozess den Eindruck mitgenommen, dass es immer besser ist, "Profil" zu haben, als in der grauen Masse unterzugehen.
Ich finde das fast schon irgendwo belustigend: Mich selbst würde ich als tendentiell konservativen Menschen betrachten, ich mache nicht jeden "Individualisierungs-Mainstream-Kitsch" mit. Aber trotzdem ist es ganz besonders in der Arbeitswelt und gerade bei Bewerbungen hilfreich und sinnvoll, wenn man irgendwie positiv hervorstechen kann, und sei es nur durch ein ungewöhnliches Hobby oder eine gemeinnützige Tätigkeit.

Auf der anderen Seite habe ich auch schon das Gegenteil erlebt, dass gerade im beruflichen Umfeld jemand, der seine Affinität zu Fantasy oder Rollenspiel preisgegeben hat als "so komischer Fantasy-Typ" abgetan wird, "die sind ja eh alle gleich".
Bezeichnenderweise ging es dabei nicht um mich .oO
 
Ich bin mir nicht sicher ob es ein Wagnis ist oder einfach eine Notwendigkeit.
In fast jedem Vorstellungsgespräch wird man mehr oder weniger auch gefragt, bzw. wird versucht zu ergründen, wie man als private Person ist. Einerseits um etwas mehr Profil zu erhalten. Gerade bei Berufsanfängern, die frisch vom Studium kommen, unterscheidet sich der fachliche Werdegang mitunter kaum. Andererseits um abzuschätzen in wie weit die Person sich in die Firmenkultur einfügt, bzw. wie sie charakterlich ist.

Dabei nehme ich an das jeder in seiner Freizeit Hobbies nachgeht die mehr oder weniger "merkwürdig" sind. Das heißt bei entsprechenden Personaltrainings in der Firma oder auch entsprechenden Gesprächen kam dort eine bunte Collage zusammen. Wobei mir der Fassaden-Kletterer als besonders spektakulär in Erinnerung geblieben ist, nun oder Kollegen mitunter "halb"legale Guerilla-Parties machen.

Bisher habe ich noch kein wirklich negatives Feedback bemerkt. Ausgenommen einen Kommentar vom ~2002 herum bezüglich meines damaligen Anime-Konsum, wobei der Vorwurf hinsichtlich Hentai auch recht zügig relativiert war. Es kann sein das das Hobby als "komisch" abgetan wird, aber bei so etwas denke ich mir das auch nicht jeder einen Bezug dazu haben kann.

Letztlich hat sich herausgestellt das das Job Interview das ich oben beschrieben habe erfolgreich war :D
 
:) (y)

Um mal den Einwand eines Freundes aufzugreifen: Interessant finde ich an dieser Stelle auch, dass in fast jedem Management-Seminar auch ein kleiner "Rollenspielexkurs" gemacht wird.
Sei es um spezielle herausfordernde Situationen wie eine Entlassung oder einen Konflikt nach- bzw. eher noch 'vor-'zustellen. Sei es, um Trockentraining dafür zu bieten oder um die Befähigung der Beteiligten dazu zu prüfen.

In dem Sinne brächte unsere Community diesbezüglich ja schon einiges mit, was man gar nicht mehr als 'basics' sondern eher als Profi-Wissen bezeichnen müsste ;)
 
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