Rezension Obsidian - Age of Judgement

Silvermane

Wahnsinniger
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Obsidian - Age of Judgement


Grundregelwerk


Na, dann mal herzlich Willkommen zu einer weiteren Ausgabe von "Silvermane reviewt komische Rollenspiele, die keiner kennt".

Diesmal hab' ich euch was Feines mitgebracht, ein Post-Apokalypse RPG der alten Schule mit religiösen Anwandlungen und, Zitat, "Guns as big as your mother!"

Ich weiss nicht, wie groß eure werten Mamis sind, daher erspare ich mir Kommentare dazu. Gehen wir stattdessen mal ans Eingemachte:

Obsidian - The Age of Judgement 2
(Grundregelwerk)

Zunächst mal die physikalischen Daten:
Ein schniekes, solide gebundenes Hardcover mit farbigem Cover und Goldfolienschrift, die Coverillustration von Christopher Shy. Man kann dem Publisher Apophis Consortium ja einiges nachsagen, aber nicht das die Produktionswerte schlampig sind.
Das Innenleben ist in schwarz-weiss gehalten, benutzt vernünftiges Papier und umfasst 247 Seiten. Das Innenartwork ist ordentlich, wenn auch nicht weltbewegend.

Nun zum amüsanteren Teil: Das Setting.
Herzlichen Glückwunsch, die Menschheit ist fast hinüber, und Horden von Dämonen bevölkern die zerbombten Reste der Erde. Aber bevor ihr jetzt die Pistole rausholt und schreit "Ich will da nicht leben!", hab ich noch ein paar gute Nachrichten.
Die verbliebenen Reste der Menschheit, welche die Manifestation der Hölle und das darauffolgende Chaos mittels Hilfe von "Oben" überlebt hatten, errichteten eine massive Trutzburg, die auf den schönen Namen "The Zone" hört. Die Zone ist ein monolithisches Gebäude, 22 Meilen durchmessend, 5 Meilen hoch und bis an die Zähne bewaffnet. Zum momentanen Zeitpunkt tummeln sich 60 Millionen Menschen darin (und das ist auch fast alles, was noch am Leben ist). Die Zone unterteilt sich in 80 Level, die jeweils 4 Sublevel á 4 Stockwerken höhe umfassen. Beinahe jedes Level ist eine autonome Stadt mit allem was dazugehört.

Vor den Toren der Zone liegt das Wasteland. Hierhin schickt man die Verurteilten und Ausgestossenen der Zone. Es existieren weiterhin einige Forschungseinrichtungen, und einige Städte, in denen sich die Ausgestossenen zusammengetan haben. Je weiter man sich von der Zone entfernt, desto mehr verändert sich die Landschaft, bis man am Rande der bewohnbaren Zone auf die Terraformationen stösst, wo die Erde dann den Charakter eines bestimmten Höllenzirkels annimmt, der sich dort manifestiert hat.

Innerhalb der Zone herrscht eitel Cyberpunk, wenn auch mit einigen Ausnahmen. Zunächst mal besitzt ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen aufgrund der Einflußnahme des letzten unkorrumpierten Höllenzirkels arkane Kräfte; diese nennt man Mystics.
Auf der Gegenseite existieren diverse Kulte, welche die Höllenzirkel im Austausch gegen Macht mit frischen Seelen versorgen; die Kultisten der verschiedenen korrumpierten Zirkel unterwandern die Gesellschaft der Zone, und helfen ihren dämonischen Herren bei der Verfolgung ihrer Ziele. Die Kultisten des letzten unkorrumpierten Zirkels hingegen helfen der Menschheit und dienen primär als spirituelle Ratgeber.
Ansonsten ist alles beim Alten; Corporations beherrschen das Geschehen, einige selbstständig, einige unter der geheimen Kontrolle von Dämonen und Kultisten, wiederum andere unter der Kontrolle der mysteriösen Darchomen. Und wie es sich für ein ordentliches Cyberpunk-RPG gehört, sind sich die Firmen untereinander nicht grün und greifen schon mal zur groben Kelle, namentlich Sturmtruppen, Black Ops Teams und High-Tech Dieben.

Noch da? Schön. Dann kommen wir zum mechanischen Teil des Ganzen. Und damit meine ich nicht die vollrobotischen Schergen des Zirkels der Qual.

Die grundlegende Regelmechanik ist sehr einfach. Alle Attribute und Skills werden in W6 gemessen. Generell fangen die Skills auf der Höhe des zugehörigen Attributs an und können dann noch weiter gesteigert werden.

Beispiel: Das Attribut "Dexterity" umfasst die Skills "Firearms", "Thrown Objects", "Fighting", "Melee" und "Stealth". Jemand mit Dexterity 4D hat automatisch auch 4D in allen zugehörigen Skills. Attribute bewegen sich normalerweise zwischen 1 und 5W6; Skills können bis zu 10W6 steigen, was aber eher selten der Fall ist.

Das System benutzt eine Schwierigkeitstabelle, beginnend bei 3 (Effortless) und in 3er-Schritten steigend bis 24 (Hopeless). Der Spieler wirft die entsprechende Anzahl W6 und zählt sie zusammen. Liegt er über der Schwierigkeit, gelingt die Aktion.

Kämpfe laufen nach bekannter Old-School-Manier ab: Zuerst ein Initiativewurf, dann die Ankündigung der Aktionen; defensive Aktionen wie Dodge oder Parry erhöhen die Schwierigkeit des Angreifers. Dazu kommen diverse Erschwernisse oder Erleichterungen durch Gelände, Equipment und Situation.
Im Falle eines Treffers wird der Schaden und die Trefferzone ausgewürfelt, der Schaden von den Trefferpunkten oder der Ausdauer abgezogen und dann darf auch schon der nächste Kombattant. Die Charaktere haben generell mehr als eine Aktion pro Kampfrunde, allerdings werden diese reihum nacheinander abgewickelt, so das das gefürchtete Shadowrunsyndrom ausbleibt (fürs Protokoll, das ist die Geschichte, bei der einem der schwer vercyberte Gorilla 2 Magazine in den Unterleib blies, ein Tänzchen machte und sich dann einen Longdrink einpfiff, bevor man wenigstens einmal handeln konnte.)

Das Kampfsystem erinnert ein wenig an Interlock/Cyberpunk 2020, und ist ähnlich tödlich; automatische Waffen sind eine tolle Methode, in kurzer Zeit eine große Menge Leichen zu produzieren. Vor allem Spielerleichen.

Das Mystic-Magiesystem funktioniert ähnlich wie das Skillsystem. Es gibt verschiedene "Pfade" a'la Vampire, die verschiedene Facetten ("Zauber") haben. Pfade haben einen Skillwert, und die Facetten eine Schwierigkeit, gegen die geworfen wird. Begrenzt wird die Zauberfähigkeit durch eine "Erholungspause" zwischen den Anwendungen.

Kultisten hingegen besitzen einen Opferdolch, mithilfe dessen sie einem unwilligen Opfer die Seele stehlen können. Die so gewonnenen "Seelenpunkte" werden dann dazu benutzt, eine vorher gelerntes Ritual auszuführen oder gar einen Dämonen oder ein Portal zum entsprechenden Höllenzirkel beschwören. Je mächtiger das Ritual/der Dämon, desto mehr Seele wird benötigt.

Cyberware reduziert ähnlich wie in SR einen Menschlichkeitswert. Im gegensatz zu SR gibt es allerdings regeltechnische Nachwirkungen, wenn der Wert unter bestimmte Schwellen sinkt.

Die Charaktererschaffung ist relativ simpel; der Spieler such sich eine der 6 Grundethen aus (Mystic, Visionary, Alter, Kultist, Corporate, Machine), wählt ein primäres und ein sekundäres Social (könnte man als "Berufe" bezeichnen) und verteilt dann einige Bonuspunkte. Anschliessend werden einige Dinge noch zufällig bestimmt (Seelenstärke, Trefferpunkte, Ausdauerpunkte, Startkapital, etc.), das Startkapital auf den Kopf gehauen und 4 Motivationen ausgesucht.

Charaktere bekommen Erfahrungspunkte für das befolgen ihrer Motivationen. Eine Motivation kann sehr allgemein sein (Perfektioniere deinen Körper!, die Hauptmotivation des Maschinenethos z.B.) oder auch sehr speziell (Kaufe ein Auto, Verführe Fiona Shaw). Ein Handeln gegen die Motivation hingegen kostet Erfahrungspunkte.

So, genug System, was bietet uns denn das Buch?

Positive Seiten:
Zunächst mal findet sich REICHLICH Spielmaterial im Buch; nicht nur unzählige Anrufungen für alle Kulte, sondern auch üppige Ausrüstung, ein Konstruktionssystem für Fahrzeuge, ein Konstruktionssystem für Corporations und ein Konstruktionssystem für Dämonen. Der geneigte Spielleiter hat also reichlich Material in seinen Händen und kann bereits mit dem Grundregelwerk einiges an Kampagnen auf die Füsse stellen.
Das System ist simpel und unaufdringleich, benutzt allerdings alle handelsüblichen Würfel in größeren Mengen; dem geneigten Spieler sei empfohlen, 2-3 Stangen Würfel bereitzuhalten.
Die Charaktererschaffung ist ziemlich schmerzlos und notfalls auch von völlig (Charakter)konzeptlosen Spielern zu meistern.
Die Magie ist bösartig und finster genug, um ins Setting zu passen, und die beschriebenen Höllenzirkel und ihre zugehörigen Dämonen lassen das Herz des geneigten Hack&Slayers höherschlagen. Vom Zombie über den gemeinen Succubus bis hin zum Terminator ist alles möglich und plausibel.

Negative Seiten:
Es ist Old-School; hier geht es weniger um jammernde Untote, die mit ihrem ach-so-schrecklichen Schicksal hadern, sondern mehr um Leute, die anderen Leuten in den Arsch treten. Das Setting bietet sich geradezu an für ein wenig Schwarzweißmalerei, und auch die Fixierung auf Action lässt sich nur schwer verleugnen. Spätestens dann, wenn man unter Ausrüstung eine Doppelseite findet, auf der nur Sprengstoffe und Zünder behandelt werden weiß man, daß Obsidian kein Spiel für Einhornstreichler und Mit-den-Orks-Verhandler ist.

Fazit:
Ich mag es. Es spricht den kleinen Munchkin in mir an, der einen Heidenspass daran hat in Power Armor herumzulaufen, und sabbernden Gruselviechern mit überdimensionierten Wummen das Licht auszublasen. Oder mit einem bewaffneten DuneBuggy durch das Ödland zu heizen, auf der Suche nach verloren geglaubten Artefakten. Oder sich bis zu den Kiemen mit Cyberware vollzustopfen und dann die Feinde der Corporation jagen zu gehen.

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