Neun Rosen

Freako

Der Kriegerpoet
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4. April 2004
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1. Kapitel


Nervös zupfte der Junge sein Hemd zurecht. Sie würde bald ankommen; von der Bushaltestelle bis zu ihm waren es nur vier Minuten zu Fuß, und sie legte diesen Weg für gewöhnlich im Rennen zurück. Er liebte es, sie laufen zu sehen- so hatte er sie kennengelernt.
Unruhig sah er sich in seinem geräumigen Zimmer um. Es war so ordentlich und sauber, dass seine Mutter vermutlich wortlos den Kopf geschüttelt und ihm liebevoll durch die Haare gestrubbelt hätte. So sah es nur aus, wenn sie kam. Er spürte einen kurzen, aber heftigen Stich im Herzen, als er an Mutter dachte. Doch das Gefühl war so schnell vergangen, wie es gekommen war- er war viel zu aufgeregt über das Kommen des Mädchens.
Der Junge erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und ging ins anliegende Badezimmer, um sich noch einmal eingehend im Spiegel zu betrachten. Er blickte in klare, blaugrüne Augen, die voller Zuversicht und Vorfreude aus einem hübschen, jugendlichen Gesicht und unter einem Schopf weicher, dunkelblonder Haare hervorstrahlten. Erst vor kurzer Zeit war sein kindliches, rundes Antlitz schmaler geworden, und die Züge der Jugend waren gerade dabei hervorzutreten.
Er lächelte probehalber, machte den Mund auf und sagte: „Hallo!“, räusperte sich dann und sagte noch einmal: „Hallo!“.
Sie fand, dass er süß aussah, wenn er lächelte.
Es klopfte an seiner Tür. Unwillkürlich fuhr er herum und rannte aus dem Bad hinaus, zurück in sein Zimmer und zu der Glastür hin, die auf seine schmale Terrasse führte. Dort stand sie; ein junges Mädchen, im selben Alter wie er, mit dunklen, fast schwarzen Augen und glatten, wunderschönen Haaren in der selben Farbe. Sie lächelte, als sie ihn sah, und dieses Lächeln ließ sein Herz rasen. Seine Hände zitterten leicht, als er die Klinke herunterdrückte und die Tür öffnete, um sie hineinzulassen.
Das Mädchen trat ein, lächelte und gab ihm einen schüchternen Kuss auf die Wange. Als sie wieder zurücktrat und ihn anlächelte sah er, dass sie genauso rot im Gesicht war, wie er sich fühlte.
Sie sahen sich noch einen Augenblick lang verlegen an, dann gab der Junge sich einen Ruck und schloss die Tür.
„Hallo!“ sagte er.
„Hallo!“ entgegnete sie, und sie schwiegen abermals für kurze Zeit.
Er würde sich nie daran gewöhnen können. Immer wenn er sie sah, wusste er nicht, was er sagen sollte, obwohl sie bereits seit zwei Monaten seine Freundin war und er sie seitdem fast jeden Tag gesehen hatte. Doch wie immer legte sich ihre Nervosität schnell; sie legte ihre Jacke und ihre Tasche auf den Stuhl auf dem er zuvor gesessen hatte, und sie sprachen miteinander, in vertrauter Nähe nebeneinander auf dem Bett sitzend.
Doch heute war etwas anders... er spürte es, und sie auch, und es war etwas, das sie beide atemlos machte. Nachdem sie den Eistee ausgetrunken hatten, den er für sie gemacht hatte- es war ein Rezept, das er von seiner Mutter hatte- saßen sie immer noch nebeneinander, doch plötzlich fielen sie beide in ein längeres, beinahe unbehagliches Schweigen, und keiner wagte, den anderen anzusehen.
Der Junge blickte auf seine Füße, zum Fenster hinaus, wo die untergehende Sonne allmählich begann den Himmel im Westen orange zu färben, und zurück auf seine Füße. Seine Gedanken kreisten wie wild in seinem Kopf, und er spürte, dass es ihr genauso erging. Reiß dich zusammen, dachte er- und als er schließlich, nach einer großen Kraftanstrengung seinen Kopf zu ihr wandte sah er direkt in ihre tiefen, dunklen Augen. Und ohne sein Zutun lehnte er sich weiter zu ihr hinüber, sie schlossen beide die Augen, und ihre Lippen berührten sich.
Es war der erste richtige Kuss in seinem Leben, und tausend Gefühle durchströhmten ihn in diesem kurzen, glücklichen Augenblick. Ihm wurde heiß und kalt zugleich, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es schien ihm, als würde die Welt um sie beide herum verschwinden, nur wohl behütende Dunkelheit, in der sie sicher und glücklich waren, so lange sie währte.
Der Junge wusste nicht, wie lange sie so da saßen und sich küssten, doch als er die Augen wieder öffnete und sich behutsam von ihr löste war ihr Anblick und das Gefühl der Zuneigung zu ihr einfach so überwältigend, dass er alle Zeit vergaß. Sie sah ihn mit ihrem fast noch kindlichen, unschuldigen Blick an, und er lächelte verlegen.
Und die Rosen fielen ihm ein.
Sein Herz schlug noch einmal kurz höher, als er daran dachte, was seine Mutter zu ihm gesagt hatte, und was er vorgehabt hatte heute zu tun. Fast hätte er es vergessen! Doch nun war er entschlossener als vorher es zu tun.
Immer noch lächelnd sagte er:
„Warte bitte kurz... ich hole nur schnell etwas!“
„Was denn?“ fragte sie neugierig; Doch er lächelte nur auf seine kindlich- verschmitzte Art und rannte eilig aus seinem Zimmer hinaus, die Kellertreppe nach oben und durch die Küche in den großen Garten des Hauses. Zielstrebig steuerte er die hinterste Ecke des Grundstücks an, und dort standen sie, im verblassenden Licht der Abendröte noch feuriger blühend als sonst.
Ein wunderschöner, buschiger Rosenstrauch, die Stiele dick und gerade, die Dornen kräftig und die Blätter von dunklem Grün; doch die neun großen, dunkelroten Rosenköpfe zogen jeden Blick auf sich. Es waren die prächtigsten Rosen, die der Junge jemals gesehen hatte; und er hatte viele Rosen gesehen. Das hier jedoch waren seine Rosen, ein Geschenk seiner Mutter- ihr letztes Geschenk an ihn.
Wieder dachte er an ihre Worte und zögerte einen Augenblick.
Ob er sie liebte? Natürlich liebte er sie! Das Klopfen in seiner Brust und das feurige Gefühl auf seinen Wangen sagten ihm genug in diesem Augenblick. Schließlich griff er an den Strauch und knipste mit dem bloßen Daumennagel eine der Blüten mitsamt einer Handspanne ihres Stiels ab- so wie seine Mutter es ihm gezeigt hatte.
Er drehte die Rose noch einen Augenblick zwischen den Fingern. Sie sah nicht aus wie eine gewöhnliche Rose. Ihre Blütenblätter ragten wie die Zacken eines Sterns hervor, nur in kugelförmiger Form; man hätte sie für einen Polarstern halten können, wären ihre Blüten nicht von dieser seltenen, weinroten Farbe gewesen. Wasser perlte noch auf ihr- Vater musste wohl am Mittag noch die Blumen im Garten gegossen haben.
Auf dem Rückweg in sein Zimmer fielen ihm die beiden leeren Weinflaschen auf dem Couchtisch auf. Sie waren am Mittag noch nicht dort gewesen. Doch er dachte sich nichts dabei sondern lief zurück in sein Zimmer, vor Aufregung zitternd, was sie wohl zu der Rose sagen würde.
Das Mädchen saß auf seinem Bett und sah sofort zu ihm auf, als er hereinkam. Sie lächelte, doch als sie die Rose in seinen Händen sah weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen und Bewunderung.
„Ist die...“ fragte sie, beinahe erschrocken.
Der Junge trat zu ihr und legte ihr die Rose vorsichtig in die zitternden Hände.
„Sie ist für dich! Und... sie heißt wie du!“ fügte er hinzu. Sie sah ihn nur wortlos an, und ihr Blick wanderte unstet zwischen ihm und der Rose hin und her. Dann lächelte sie, und eine einzelne Träne der Rührung rollte ihre zarte Wange hinunter.
„Ich... mag dich!“ sagte sie, und ihm lief wieder ein wohliger Schauer über den Rücken.
„Ich mag dich auch...“ brachte er schließlich hervor.
„Wir werden immer zusammen sein... oder?“
„Ja, für immer!“ antwortete sie, und das Glück strahlte aus ihren Augen.
„Es ist so eine schöne Rose...“
 
2. Kapitel


"Ja? Findest du?“ fragte ihn seine Mutter, und Stolz glänzte in ihren Augen. Der kleine Junge nickte heftig, so dass seine dunkelblonden Haare flogen.
„Ja, Mama! Du hast noch nie so schöne Rosen gehabt. Alle Rosen sind schön, aber die hier sind die allerschönsten!“
Sie lächelte über das Ungestüm ihres Sohnes und strich ihm liebevoll durch die Haare.
„Ich habe lange gebraucht, um sie aufzuziehen. Ich musste gut auf sie Acht geben, denn diese Sorte ist sehr empfindlich, wenn sie noch nicht ausgewachsen ist. Aber jetzt... sieh, wie sie leuchten. Ich habe noch keinen Namen für sie. Fällt dir einer ein?“
Der Junge dachte einen Augenblick angestrengt nach, während er die dunkelroten, sternförmigen Kugelköpfe der Rosen betrachtete. Sie waren noch ganz klein, aber es war schon jetzt zu erkennen, dass sie später einmal wirklich prachtvoll werden würden. Als Sohn der besten Gärtnerin der Stadt sah er das sofort.
Schließlich jedoch zuckte er die Schultern.
„Na ja, macht nichts!“ sagte seine Mutter lachend. „Uns wird schon noch einer einfallen. Weißt du aber, was das beste an diesen Rosen ist?“
Der Junge sah sie mit großen Augen an und schüttelte den Kopf, ungeduldig zu erfahren, was es war.
„Das beste an diesen Rosen ist, dass ich sie dir schenke. Ich habe sie für dich gezüchtet, weil ich doch weiß, wie sehr du Rosen liebst. Das hast du wohl von mir geerbt.“
„Für... für mich?“ fragte der Junge ungläubig. „Aber sie sind... wunderschön!“
„Ja, aber ist das ein Grund für mich sie dir nicht zu schenken?“ fragte sie lächelnd.
„Oh, danke Mama!“ jauchzte er auf und sprang ihr in die Arme. Glücklich drückte sie ihn an sich und empfand eine tiefe, stille Freude über das Glück ihres Sohnes in sich. Schließlich jedoch rückte sie ihn sanft von sich weg und sah ihm sanft in die Augen.
„Es gibt auch einen bestimmten Grund, dass ich sie dir schenke. Natürlich wollte ich dir eine Freude machen... aber sie sollen auch einen guten Nutzen für dich haben. Freude und Glück sind Dinge, die man am besten teilt. Du wirst eines Tages herausfinden, dass du vielleicht das eine oder andere Mädchen magst und sie dich auch. So wie dein Vater und ich es tun vielleicht sogar.“
„Ich mag nur dich, Mama! Die anderen Mädchen sind doof.“ antwortete der Junge im Brustton tiefster Überzeugung, was seiner Mutter ein leises, glockenhelles Lachen entlockte.
„Das denkst du jetzt, junger Mann. Aber vielleicht ändert sich das ja mal- wer weiß? Jedenfalls- wenn ich dieses Mädchen wäre würde ich mich sehr über so eine Rose freuen.“
„Dann schenke ich sie dir wieder zurück!“ rief der Junge, und seine Mutter strubbelte ihm durchs Haar.
„Geschenke kann man nicht zurückschenken. Versuch einfach später einmal daran zu denken- Wenn du ein Mädchen findest, das du wirklich liebst, und du das Gefühl hast dass sie dich ebenfalls liebt, dann schenke ihr eine dieser Rosen. Aber sei nicht zu voreilig- es ist kein gewöhnlicher Strauch. Er hat neun Blüten, und wenn du eine davon abmachst wird sie nicht mehr nachwachsen; sie wird auch nicht im nächsten Frühling neue Triebe bilden. Du hast neun Blüten, und sie werden jeden Winter überstehen und im Frühling aufblühen; aber es bleibt bei diesen neun. Wenn sie fort sind, dann werden sie es für immer bleiben.“
Nachdenklich sah der Junge sie an; er begriff nicht ganz, was sie damit meinte; doch er würde diese Worte nie vergessen.
„Ich liebe dich, Mama!“ sagte er.
„Ich dich auch, mein Schatz.“ Entgegnete sie glücklich. „Wie wäre es, wenn du uns jetzt einen Eistee machst? Weißt du noch, wie es geht?“
Der Junge nickte heftig, sprang auf und rannte ins Haus, glücklich, seiner Mutter eine Freude machen zu können. Sie blickte ihm hinterher, immer noch das Lächeln im Gesicht, bevor sie sich wieder herumdrehte und sorgsam die Erde um den Rosenstrauch herum bearbeitete, während sie begann leise ein fröhliches Lied vor sich hin zu summen.
 
3. Kapitel


Es regnete schon den ganzen Morgen hindurch, so wie es auch die ganze Nacht geregnet hatte. Der Junge wusste es, denn er hatte kein Auge zugetan. Ein Auge, das aus Schmerz Tränen verlor, schloss sich niemals wirklich. Er sollte es noch oft erfahren, aber niemals so deutlich wie jetzt, in diesen jungen Jahren.
Von den großen, unaufhörlich herniederprasselnden Tropfen war der sandige Kiesboden stark aufgeweicht, und die Trauergemeinde musste den großen, schmutzigbraunen Pfützen ausweichen, die sich auf den schmalen Wegen gebildet hatten.
Der Junge bemerkte sie nicht einmal und lief mitten hindurch, wenn sein Vater einmal kurz nicht aufpasste und ihn zur Seite zog. Seine Füße waren durchnässt und klamm, aber auch das bemerkte er nicht.
Als der Priester seine Rede hielt- große, schöne Worte, die doch niemandem Trost zu spenden vermochten- hörte der Junge nicht hin, und obwohl sein Blick ständig auf seine Schuhspitzen gerichtet war, die in dem durchweichten Boden ein wenig eingesunken waren, sah er sie nicht.
All seine Gedanken, all seine Sinne waren bei ihr, und das einzige Wort, das er überall, in jeder Pfütze, in den dräuenden Wolken am Himmel und auf den Hüten der Trauergäste zu sehen glaubte, war: Warum?
Warum gerade sie? Warum der Mensch, der es am allerwenigsten verdient hatte? Den er am meisten geliebt und um den sich für ihn alles gedreht hatte? Sie hatte nie etwas böses getan, war immer für ihn da gewesen... sie war jeden Tag das erste gewesen, das er sah, als sie an seinem Bett stand und ihn mit ihrer sanften Stimme weckte... von nun an würde es sein kleines Zimmer sein, das ohne sie so unglaublich leer war.
Sie hatte ihn immer mit einem Lächeln empfangen, wenn er von der Schule kam, hatte ihn in den Schlaf gesungen... das Lächeln war nun fort, und die Dunkelheit würde ihn von nun an in den Schlaf wiegen. Wie kalt und grausam konnte das Leben sein?
„Warum?“ fragte der Priester, und der Junge fuhr hoch.
Doch der Geistliche blickte weiterhin in die Bibel, aus der er monoton vorlas, und das Wort hatte nicht er ausgesprochen sondern der Junge, ohne es zu merken. Die schwere Hand auf seiner Schulter, die seinem Vater gehörte und die er erst jetzt bemerkte, drückte ihn in dem vergeblichen Versuch Trost zu spenden, obwohl er selbst keinen hatte. Der Junge sah hoch, doch in Vaters Gesicht war keine einzige Gefühlsregung zu erkennen. Er wirkte übernächtigt, genau wie der Junge selbst, und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Wenn man genau hinsah konnte man noch die Schnitte sehen, die er sich durch seine Unaufmerksamkeit beim Rasieren zugezogen hatte.
In seinen blauen Augen, die starr unter dem vor Nässe triefenden Hut hervorblickten, schimmerte es feucht, als er seinen Sohn anblickte und sagte: „Sie ist immer noch da, auch... wenn wir sie nicht sehen.“ Doch der Junge wusste, was sein Vater hatte sagen wollen: Sie hat es nicht verdient.

Vater schloss die Tür zu ihrem großen, geräumigen Wohnhaus am Stadtrand auf, und das erste, was der Junge spürte, war nicht die angenehme Wärme und die wohltuende Trockenheit, sondern die Leere... schon der Eingangsflur schien ihm viel zu groß, und er kam sich klein und verloren vor. Das Gefühl der Geborgenheit, das er jedes Mal empfunden hatte, wenn er durch diese Tür hereinkam, wollte sich nicht einstellen. Etwas fehlte. SIE fehlte.
Sein Vater legte den vor Nässe schweren Mantel ab und hängte ihn zum Trocknen über die große Heizung und half dann seinem Sohn, sich aus der Jacke zu schälen.
„Geh am besten unter die Dusche und zieh dir trockene Klamotten an... du erkältest dich sonst.“ Sagte er, und seine Stimme klang kraftlos.
Der Junge drehte sich gehorsam um, um die Treppe hinauf ins Bad zu gehen, blieb jedoch noch einmal stehen und warf einen Blick über die Schulter zu seinem Vater. Er erschrak fast, denn es kam ihm vor als sähe er einen Fremden vor sich. Er stand mit dem Rücken zu dem Jungen, die breiten, kräftigen Schultern tief herabhängend. Obwohl Vater sehr groß war, wirkte er wie ein kleiner, alter Greis, so wie er dastand, das Gesicht, von dem der Junge seine hübschen Züge hatte, wie versteinert, jedes Gefühl und jedes Leben in den Augen, die in den Spiegel vor ihm blickten, erloschen. Sein Vater, sein Freund, zu dem er immer aufgesehen hatte, der so groß und stark war; sein Vater, der in jeder Lage stets wusste was zu tun war; sein Vater, der ihn auf seinem Rücken durch den tiefen Fluss oben im Wald getragen hatte; sein Vater, in dessen starken Armen der Junge und seine Mutter stets Halt und Sicherheit gefunden hatten.
Sein Vater war nur noch ein Schatten seiner selbst, war nichts mehr, was er früher einmal gewesen war; er hatte alle Kraft verloren. Als er den Blick seines Sohnes im Spiegel bemerkte, sah er zu Boden.
Einen Augenblick lang betrachtete der Junge den gebrochenen Mann, der vor ihm stand, dann senkte auch er den Blick und schlurfte betreten nach oben
 
4. Kapitel

Die letzten seiner Freunde begannen sich zu verabschieden. Es war bereits einige Stunden nach Mitternacht, und nicht wenige waren betrunken und würden am nächsten Morgen einen ziemlich starken Kater haben.
Nur sie war noch geblieben; sie würde heute Nacht hier schlafen. All seine Freunde hatten darauf verzichtet, bei ihm zu bleiben, wohl wissend dass heute Nacht etwas laufen würde, bei dem sie nicht stören wollten. Es wurde endlich Zeit, dass er aus seinem Trübsal erwachte, endlich anfing zu leben, hätten die meisten geantwortet, wenn man sie über ihn ausgefragt hätte.
Er hatte viele Freunde gefunden, und sie alle waren zu seinem fünfzehnten Geburtstag gekommen. Sie waren nett, und er konnte mit ihnen lachen und die Dinge tun, die man in diesem Alter eben tat; doch keiner von ihnen verstand ihn, und so konnte er nicht vergessen. Er tat manchmal verrückte Dinge, die die anderen sich niemals trauen würden; aber nicht, weil er mutig war, sondern weil... nun, er wusste es nicht. Und es war ihm egal.
Doch trotz dieser Dinge geschah es oft genug, dass er auf Partys, auf denen alle anderen fröhlich tranken und tanzten, allein in einer Ecke saß und einfach ins Leere blickte.
Vielleicht war das einer der Gründe, aus denen er so beliebt war.
Er übte eine seltsame Faszination auf die Menschen in seiner Umgebung aus; wohin er auch kam schloss er schnell Bekanntschaften und fand neue Freunde. Es gab kaum ein Mädchen, das ihm und vor Allem dem traurigen Ausdruck in seinen Augen, der so gar nicht zu seinem hübschen Gesicht und seinem trainierten Körper passte, widerstehen konnte. Er selbst war sich dieses Umstandes kaum bewusst, und wenn man ihn darauf hinwies verzog er nur in einer undeutbaren Mimik das Gesicht oder machte eine abfällige Bemerkung. Er hätte genauso gut ohne die Mädchen leben können, und die Typen brauchte er schon gar nicht. Das einzige, was ihn dazu brachte, sich mit ihnen abzugeben, war der Umstand, dass die Einsamkeit, die Momente, in denen er mit sich und seinen Erinnerungen allein war, viel schlimmer waren als die Gesellschaft seiner Freunde.
Doch sie war anders.
Wo die anderen sprachen, saß sie still und hörte zu; wenn die anderen betrunken umhertorkelten stand sie daneben und passte auf, dass nichts zu Bruch ging. Und immer, in jedem Augenblick, schienen ihre grün-grauen Augen ihn zu mustern und sagen zu wollen: Ich verstehe dich.
Er hatte Stunden damit verbracht, mit ihr zu reden; Niemals über den Tod seiner Mutter oder die Trunksucht seines Vaters, sondern über völlig belanglose Dinge; und doch war er sich sicher, dass sie ihn verstand, und wenn er mit ihr zusammen war, so fühlte er sich geborgen und als ob ein Teil seiner Last durch dieses zierliche, wunderschöne Mädchen von ihm genommen wäre.
Die anderen behaupteten felsenfest, sie wären füreinander geschaffen, und er hatte es tief in sich gespürt seitdem er das erste Mal mit ihr gesprochen hatte.
Als die Letzten gegangen waren saßen sie noch eine Weile in seinem Wohnzimmer. Morgen früh würden sie aufräumen müssen. Vater war wieder einmal nicht zu Hause... er verschwand manchmal tagelang, und wenn er zurückkam erzählte er nie, wo er gewesen war. Dennoch wollte der Junge nicht, dass sein Vater das Haus so vorfand. Trotz allem Schmerz, den er fühlte, war dieser Mann der einzige, von dem er wusste, dass er seinen Schmerz wirklich teilen und fühlen konnte.
Sie hatten seit ihrem Tod niemals über Mutter gesprochen.
Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und seufzte tief.
„Mir gehen diese Quatschköpfe manchmal auf die Nerven, auch wenn ich sie sonst mag.“ Sagte sie leise und in einem halb scherzhaften, halb resignierenden Ton, der ihn dazu brachte leise zu lachen.
„Erzähl ihnen das bloß nicht!“ sagte er, und sie küssten sich lange. Als sie sich wieder etwas voneinander lösten blieben ihre Augen tief ineinander versunken, während ihre Hände tastend am Körper des Anderen hinunterglitten und die Kleidung abstreiften.
Es war nicht das erste Mal, dass der Junge mit einem Mädchen schlief, und doch war es für ihn ein völlig neues Gefühl. Sie bewegte sich mit ihm, schien in jedem Augenblick völlig mit ihm in Einklang zu sein. Es war beinahe unheimlich, und auch in diesem Punkt schien sie das selbe zu spüren wie er: sie beide hatten am ganzen Körper eine leichte Gänsehaut. Eine seltsame Spannung lag, fast fühlbar knisternd, über ihnen in der Luft.
Als sie nach langer Zeit erschöpft nebeneinander auf dem Sofa lagen sah er ihr lange in die Augen, bis diese sich schließlich langsam schlossen und sie glücklich und sicher an seiner Seite einschlief.
Sachte strich er durch ihr helles, weiches Haar, und eine einzelne Träne des Glücks rann aus seinem Augenwinkel. Er fühlte sich so leicht, so sicher... war sie diejenige, die seinem Leben wieder einen Sinn geben würde? In diesem Augenblick glaubte er es. Als er sicher war, dass sie fest eingeschlafen war, erhob er sich vorsichtig, zog seine Boxer- Shorts an und schlich hinaus in den Garten.
Es war fast stockdunkel, doch er fand den Weg zu seinem Rosenstrauch mit traumwandlerischer Sicherheit. Er ließ sich davor auf die Knie fallen, und das feuchte Gras kühlte angenehm seine heiße Haut. Kein Geräusch war z hören, bis auf das Rauschen des Windes im Blätterdach des nahen Waldes.
Sie war es- sollte es sein. Entschlossen griff er nach vorne, bog vorsichtig einen der Rosenköpfe zurück und trennte ihn behutsam ab.
Wie einen Schatz- und ein solcher war diese Blume für ihn- trug er den runden, roten Rosenkopf in der Hand, und als er sich wieder hineingeschlichen hatte bettete er ihn vorsichtig neben dem Kopf des Mädchens auf das Sofa. Dann legte er sich wieder neben sie und betrachtete sie noch lange, bis auch ihn schließlich der Schlaf übermannte und er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in erholsame, schöne Träume versank.

Drei Monate später erfuhr er, dass ihre Familie aus der Stadt wegziehen würde und sie sich niemals wiedersehen sollten.
 
5. Kapitel

Sein Großvater- der Vater seiner verstorbenen Mutter- war bereits sehr alt und manchmal etwas verrückt im Kopf. Gelegentlich phantasierte er, und manchmal wurde er während seinen Anfällen sogar gewalttätig, so dass man ihn auf Anraten der Ärzte in ein Heim verwiesen hatte. Dort hatte sich sein Zustand zwar etwas verbessert, aber nicht völlig normalisiert.
Der Junge besuchte ihn oft, denn er mochte den alten Mann. Er war auch der einzige, dem dieser gegenüber nie Feindseligkeiten geäußert hatte, seitdem seine Krankheit zu wüten begonnen hatte.
Sie unterhielten sich stets viel, der Junge erzählte von seinem Vater, von seinen Erfolgen in der Schule, und manchmal, ganz selten auch über seine Erlebnisse mit den Mädchen. Letzteres jedoch sprach er nicht oft an, denn der Gesichtsausdruck seines Großvaters verfinsterte sich jedes Mal dabei, und er antwortete stets einsilbig oder gar unfreundlich, bis der Junge es vorzog das Thema zu wechseln.
Heute jedoch spürte er, dass etwas andres war, als er das Zimmer des alten Mannes betrat. Es war kaum in Worte zu fassen, doch schließlich beachtete er es nach einem kurzen Zögern nicht mehr.
Großvater stand aufrecht und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor dem Fenster und blickte nachdenklich in das Schneegestöber hinaus. Es war Dezember, und der Winter war ausnahmsweise einmal pünktlich eingetreten.
Sein Großvater war ein stattlicher Mann, sehr groß und kräftig, der das ergraute Haar stets gut frisiert trug und dessen markantes Gesicht ein gepflegter Schnurrbart zierte. Einzig die roten Äderchen, die sich in den letzten Jahren auf seinen Wangen gebildet hatten, zeugten von seinem Leiden.
Als er sich herumdrehte und seinen Enkel erkannte, breitete sich das freudige, väterliche Lächeln auf seinen Zügen aus, das den Jungen jedes Mal unwillkürlich ein wenig an den Weihnachtsmann erinnerte. Doch diesen Gedanken hätte er nie ausgesprochen.
Sie begrüßten sich herzlich, dann ging der Junge zur Tür und schloss sie, ehe er seinen Rucksack auf das Bett des Großvaters stellte und mit verschwörerischer Mine zwei Flaschen Bier zu Tage brachte.
„Ja, das ist mein Enkel!“ sagte Großvater hocherfreut und knuffte den Jungen herzlich in die Seite.
„Hier in diesem Loch verbieten sie einem alles außer Haferschleim und Wasser, wenn es so weitergeht! Wie gerne würde ich wieder in meinem eigenen Haus leben... aber das haben sie verkauft. Eine Schande ist das!“
Der Junge zuckte die Schultern, wissend, dass sein Gesprächspartner dieses Thema nicht weiter vertiefen würde. Also öffnete er die Flaschen, reichte eine an seinen Großvater, und sie prosteten sich zu.
Sie begannen sich über verschiedene Dinge zu unterhalten und lachten laut und viel. Schließlich jedoch, nach einem Moment der Ruhe, in dem sie beide gedankenverloren aus dem Fenster sahen, wo gerade die Straßenlaternen angingen und die kaum befahrene, verschneite Straße vor dem Heim beleuchteten, sagte der Junge:
„Ich habe wieder ein Mädchen kennengelernt. Sie ist neu in meinem Karate- Kurs... Wir verstehen uns wirklich gut. Sie war bei mir und...“
Er verstummte, als er den Blick in den Augen seines Großvaters sah. Dieser starrte ihn an, und seine Kiefer waren so fest zusammengebissen, dass es knirschte.
„Ist... alles...“ fragte er zögerlich, doch sein Gegenüber unterbrach ihn.
„Hast du ihr eine gegeben?!“ Der alte Mann schrie fast.
„Ja, aber...“ Stammelte der Junge. Was war nur los?
„Du unwissender, dämlicher Bengel! Wie kannst du mit deinem Leben und dem letzten was du hast so sorglos umgehen!! Wie kannst du das letzte Geschenk meiner Tochter an irgend so eine...“ Er verhaspelte sich und musste tief Luft holen. Die Bierflasche in seiner Hand zitterte bedenklich, und der Junge rückte erschrocken von ihm weg.
„Wie viele?!“ zischte der Alte.
„Wa.. was??“
„Wie viele sind es noch?!“ Die Augen des Großvaters schienen fast überzuquellen, und gemeinsam mit seinem stark geröteten Gesicht sah er gar nicht mehr so freundlich aus wie zuvor.
„Noch... drei...“ Am liebsten wäre der Junge aufgesprungen und hinausgerannt, doch etwas im Blick des Mannes hielt ihn dort fest, wo er war.
„DREI Rosen?! Du bist gerade einmal siebzehn Jahre alt!! Wie kannst du es eigentlich wagen zu denken dass du jemals auch nur ein wenig geliebt hast? Sie... hat sich so viel Mühe gegeben, so hart gearbeitet, um dir dieses Geschenk zu geben! Vielleicht ist es das wichtigste, das jemals eine Mutter einem Sohn geschenkt hat! Und du wirfst es weg ohne nachzudenken! Denkst du denn, dass dieses... Flittchen oder die davor so etwas wertvolles VERDIENT haben?!“ Er schrie jetzt wirklich, sein Gesicht war zu einer erschreckenden, roten Fratze verzerrt und der Junge den Tränen nahe. Noch niemals hatte er sich so hilflos gefühlt und so verzweifelt. Es war, als stürzten Himmel und Hölle über ihn her, und der Sturm aus Gefühlen, den die aufwühlenden Worte seines Großvaters in ihm hervorriefen, glich einem Orkan.
Draußen auf dem Flur wurden Rufe und Schritte laut, die sich näherten.
„Du weißt nicht einmal, was sie bedeuten!“ Der Alte kicherte irre. „Du denkst es sind nur Rosen... und sie bedeuten dir etwas, weil deine Mutter... MEINE TOCHTER!! Sie dir geschenkt hat. Aber sie bedeuten dir nicht genug, NICHT GENUG!!! Hättest du sie doch behalten! KEINE Frau außer ihr war es wert, sie zu bekommen. Du wirst sie nie finden, diejenige, die es verdient sie in den Händen zu halten. Und weißt du was?! Vergiss das niemals, NIEMALS, denn ich sage es dir nur ein einziges Mal! Wenn du die letzte Rose aus den Händen gibst, wenn der Strauch leer und wertlos wie Unkraut ist, dann passiert das gleiche mit DIR!! DEIN Leben wird zu Ende sein, und du wirst vergehen wie die Rosen, die du so leichtfertig aus der Hand gegeben hast!!“
Die Tür flog auf, und ein Arzt, begleitet von zwei kräftigen Helfern, stürzte herein. Der Mann erfasste die Situation mit einem Blick und gab den beiden Männern einen Wink. Großvater sprang auf, doch schon hatten die beiden Weißgekleideten hatten ihn schon an den Armen gepackt und hielten ihn mit stählernem Griff fest.
„Ich hätte dich UMGEBRACHT für deinen Leichtsinn!!“ schrie er außer sich vor Wut. „Aber das brauche ich gar nicht! Du wirst es SELBST tun!! Wenn du die letzte Rose weggibst wirst du daran sterben!!“ Seine Stimme überschlug sich, und noch bevor er in weitere Tiraden ausbrechen konnte war der Arzt bei ihm und stach ihm in einer gekonnten Bewegung die feine Nadel einer Spritze in die deutlich hervorgetretene Halsschlagader. Der große, alte Mann bäumte sich noch einmal kurz auf und sackte dann haltlos in sich zusammen.
Die beiden Arztgehilfen nahmen ihn zwischen sich und schleppten ihn aus dem Zimmer hinaus, während der Arzt sich zum Jungen herumdrehte.
„Mach dir keine Sorgen, junger Mann. Er hat nur...“
Doch der Junge hörte gar nicht mehr hin. Mit einem Satz sprang er hoch, schnappte seinen Rucksack und rannte aus dem Zimmer, so schnell er konnte. Er stürzte an der völlig perplexen Rezeptionistin vorbei und hinaus auf die Straße, in das nächtliche Schneetreiben hinaus.
 
6. Kapitel

„Wie kannst du so etwas nur sagen?“ rief sie zornig und sah ihn mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Wut an.
„Hör mal...“ entgegnete der Junge unbehaglich. „Du kennst diesen Typen gerade einmal seit gestern... du verbringst den ganzen Abend mit ihm, heute fährst du in aller Frühe zu ihm und bleibst den ganzen Tag dort... was soll ich denn bitte denken? Du hättest mir ja wenigstens einmal Bescheid geben können.“
„Ich will doch auch mal neue Leute kennenlernen! Willst du mir das verbieten?“
„Nein, das will ich nicht! Aber wenn man Leute auf diese Art kennenlernt... ich habe Angst dich zu verlieren!“
Sie sah ihn schweigend an und zögerte eine Winzigkeit zu lange mit ihrer Antwort. Es lief die ganze letzte Zeit schon nicht mehr so gut mit ihnen... Sie trieb sich mit anderen Kerlen herum, ließ ihn auf Partys manchmal einfach stehen und flirtete mit anderen, selbst wenn er direkt daneben stand, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Noch nie hatte jemand ihn so behandelt. Und er konnte einfach nicht Schluss machen... je mehr sie ihm wehtat, desto verzweifelter hoffte er, er könne es ändern.
„Wir sind jetzt fast acht Monate zusammen... da kannst du mir doch wenigstens vertrauen, oder?
Zack- das waren sie. Diese Worte konnte er nicht widerlegen. Er sah sie an und spürte genau, dass sie log. Sie würde ihm fremdgehen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommen würde, mit diesem Typen, der in wenigen Tagen wieder abreisen und zu seiner eigenen Freundin zurückkehren würde.
Und doch zwang er sich, dieses schlechte Gefühl zu unterdrücken, versuchte zu lächeln, doch eine Träne löste sich aus seinem Auge, bevor er sie fortwischen konnte. Noch eine Woche zuvor hatte er ihr die vorletzte der Rosen geschenkt, in der Hoffnung, ihre Beziehung damit zu retten.
Ja, Beziehungen waren auf Vertrauen aufgebaut. Er musste ihr vertrauen.
Sie gingen an diesem Abend auf diese Party, und dort sah er den Anderen persönlich. Er war sehr groß und gutaussehend, so wie seine Freundin ihren Traumtypen immer beschrieben hatte. Der Junge spürte bei jedem Wort, das er mit ihm wechselte, einen Stich im Herzen; doch er tat es dennoch, versuchte mit ihm zurechtzukommen, seiner Freundin zuliebe. Es war die Hölle.. Immer wieder fragte er sich, ob der Kerl mit ihr schon im Bett gewesen war und ihm nun dennoch offen ins Gesicht lächelte.
Doch das Gefühl legte sich. Sie lachten und scherzten, tranken einige Bier, unterhielten sich mit den anderen. Seine Freundin jedoch wirkte seltsam betreten und verschwand für kurze Zeit mit ihrer besten Freundin, um kurz danach wiederzukommen und den Jungen beiseite zu nehmen.
„Es wäre besser, wenn du heute etwas früher gehst.“ Sagte sie leise, aber eindringlich zu ihm. Der Junge sah zu seiner Freundin hinüber und bemerkte, dass sie weinte.
Was war hier los?
Vielleicht musste er ihr Zeit geben. Sie würde bestimmt gerne mit ihrem neuen Bekannten ein wenig reden. Er wollte ihr nicht im Wege stehen. Er war doch eigentlich ganz nett, würde bestimmt nichts mit ihr anfangen, noch dazu wenn er selbst auf der Party war.
Also beschloss er mit zwei seiner Freunde ein wenig spazierenzugehen, durch den Park, in dem sie feierten. Schon nach kurzer Zeit war er abgelenkt, sie sprachen über ihre guten Zeiten, was sie in den gerade begonnenen Sommerferien alles tun, wohin sie fahren würden. Sie machten eine Gästeliste für seinen Achtzehnten Geburtstag, und schließlich, nach etwa einer halben Stunde schlenderten sie gemächlich zurück, um weiter mit den anderen zu feiern.
Dort sah der Junge sie, wie sie auf dem Anderen lag, sturzbetrunken, sich an den Armen, die er um sie geschlungen hatte, festhaltend, mitten zwischen seinen ‚Freunden‘, die das alles wohl nicht zu interessieren schien.
Alles drehte sich um ihn herum, es fühlte sich an als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Als sie ihn bemerkten sprangen sie auf, gingen zu ihm, redeten wild durcheinander, versuchten ihn mal hierhin, mal dorthin zu zerren.
Er verstand nichts mehr, hörte auf zu denken. Er weinte ungehemmt, griff wahllos nach allen Flaschen, die er zu fassen bekam und trank sie auf einen Zug aus. Der Schnaps brannte in seinem Hals, und fast sofort erfasste ihn ein heftiges Schwindelgefühl. Er taumelte und schlug der Länge nach hin, doch er merkte es nicht. Er zappelte, schlug wild um sich und kauerte sich schließlich eng am Boden zusammen. Ein heftiges Stechen in seiner Brust machte sich bemerkbar, füllte alles was er noch wahrnahm aus und wurde schließlich so stark, dass er seine rechte Hand über dem Herzen zusammenkrampfte, so fest, dass sich dunkel unterlaufene Druckstellen bildeten, wo seine Finger waren.
Die anderen liefen teilweise wild durcheinander, teilweise saßen sie nur da und tranken weiter. Das letzte, woran der Junge sich an diesem Abend erinnern konnte, war dass er in ein Auto gebracht und vom Park weggefahren wurde.
 
7. Kapitel

Es war ein strahlender, eiskalter Februartag, als er die Nachricht erhielt. Ein sehr korrekter Polizeibeamter in Dienstkleidung klingelte an seiner Haustür und überbrachte sie ihm in knappen Worten. Als der Junge nicht antwortete sondern scheinbar durch den Polizisten hindurchblickte, verabschiedete sich dieser unbehaglich und hatte es sehr eilig, das große, einsame Haus zu verlassen.
Lange stand der Junge einfach da und bewegte sich nicht. Dann drehte er sich langsam herum und blickte in den großen, alten Spiegel. Er erschrak bei dem, was er sah; er wirkte beinahe wie sein Vater damals an jenem Tag, als Mutter beerdigt worden war, die Haut blass, die Schultern herabhängend, die Augen ohne jedes Feuer.
Hatte auch er nun alles verloren? War auch er nur noch ein Schatten seiner selbst?
Langsam löste er sich vom Spiegel und wanderte durch das große Wohnzimmer, die geräumige Küche... Alles sah mit einem Male grau und verschlissen aus, obwohl die Sonne mit goldenen Strahlen vom blauen Himmel herabschien.
Man hatte seinen Vater in seinem völlig zerstörten Wagen an einem Baum an der Landstraße gefunden. Er war mit mehr als hundertachtzig Stundenkilometern von der Straße abgekommen. Es war nicht viel von ihm übriggeblieben, was man beerdigen konnte. Vermutlich war er unter Alkoholeinfluss gefahren, hatte der Polizist gesagt, als wolle er sagen: „Da siehst du mal, was das für Folgen haben kann... mach das niemals!“
Der Junge ging die Treppe hinauf in das Arbeitszimmer seines Vaters. Hier roch es stark nach Schnaps; überall standen leere Flaschen herum. Die ehemals so sorgfältig sortierten Akten und Dokumente seines Vaters waren kreuz und quer durch den Raum verstreut, so dass man kaum einen Schritt tun konnte, ohne auf etwas zu treten. Die großen, vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster waren lange nicht mehr geputzt worden, so dass die Sicht auf den verwilderten Garten etwas glasig wirkte. Der einzige Ort, an dem Ordnung herrschte, war der große, hölzerne Arbeitstisch. Und auf diesem lag ein handgeschriebener Zettel.
Der Junge stutzte, trat dann heran und betrachtete ihn genauer. Es war eindeutig die Handschrift seines Vaters. Und die Nachricht auf dem Zettel war eindeutig an ihn gerichtet- „Mein Sohn,“ begann der Brief.
Er wusste, was darauf stehen würde, und wusste nicht, ob er es lesen sollte. Er hatte in den letzten Jahren kaum mit seinem Vater geredet, ihn fast nie zu Gesicht bekommen. Alles, was er erreicht hatte, seine Erfolge in der Schule, sein erstes selbstverdientes Geld, der bestandene Führerschein- alles hatte er sich selbst erarbeitet, ohne dass sein Vater Kenntnis davon genommen hätte. Doch der Sohn verzieh es ihm, wusste dass Vater ihn liebte. Und vor Allem wusste er, was sein alter Herr durchmachte. Er hätte es gewollt, dass er das hier jetzt las.

„Mein Sohn,

Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass du diese Zeilen hier lesen musst, anstatt sie aus meinem Mund zu hören. Doch ich bin zu schwach, um dir in die Augen zu sehen, schäme mich, wenn du mich in meinem derzeitigen Zustand überhaupt zu Gesicht bekommst.
Ich habe deine Mutter mindestens ebenso geliebt wie du, und als sie starb hatte ich nichts mehr, an das ich mich halten konnte. Ich habe es versucht- bitte glaube mir, dass ich es versucht habe!- damit zu leben, doch ich bin gescheitert. Ich habe ihr einmal, vor vielen Jahren, das Versprechen gegeben, für dich zu sorgen, damit aus dir etwas wird, ein erwachsener Mann; und jetzt, wo du einundzwanzig Jahre alt bist, habe ich dieses Versprechen erfüllt.
Ich möchte, dass du weißt, dass ich stolz auf dich bin, es immer war; du warst alles, was ich noch hatte, nachdem sie tot war. Ich habe gesehen, dass du stark bist; du wirst es schaffen, auch ohne mich. Wir haben genug Geld, um dich auf eigenen Füßen stehen zu lassen; ich habe unseren Anwalt beauftragt alles notwendige zu veranlassen. All unser Besitz geht an dich- ich weiß, dass du gut damit zurechtkommen wirst.
Bitte versprich mir eines, mein Sohn- du hast dein Leben noch vor dir, kannst noch alles erreichen, was du willst. Mein Leben endete, als deine Mutter starb.
Versprich mir, dass du stärker sein wirst, als ich es war. Vergiss uns niemals- wir werden über dich wachen und immer für dich da sein- auch wenn du uns nicht siehst.
Ich habe nicht mehr die Kraft zu leben. Wenn du diese Zeilen liest, dann werde ich bereits tot sein
Es tut mir leid. Ich werde dich immer lieben.
Dein Vater.“

Aufmerksam las der Junge den Brief .Es stand nichts darin, was ihn überrascht hätte, und doch bewegte er ihn. Stille Tränen flossen über seine Wangen, und er dachte an damals, als Mutter noch gelebt hatte und sie alle drei gemeinsam zusammen glücklich gewesen waren. Diese Zeit schien ihm so fern, als hätte sie nie stattgefunden, und doch erinnerte er sich noch an jeden Augenblick.
Er legte den Zettel zurück und verließ das Zimmer.
Ohne sein Zutun lenkten ihn seine Schritte in den Garten hinaus. Die Luft war sehr kalt, aber klar und erfrischend. Rauhreif hatte sich auf dem langen Gras gebildet, das von Unkraut durchwuchert war. Er raschelte und knisterte unter seinen Schritten, während er sich dem Rosenstrauch näherte.
Die letzte Blüte schien sich ihm entgegenzustrecken, ihn anzulächeln; ein letztes Lächeln seiner Mutter schien sie zu bedeuten. Behutsam ging er vor dem Strauch auf die Knie und streckte die Finger nach dem prallen, roten Kopf aus, der die gefrorene Wiese um sich herum Lügen zu strafen schien. Kurz bevor er ihn berührte hielt der Junge jedoch inne.
Er dachte daran, was Mutter ihm damals gesagt hatte: „Wenn sie fort sind, dann werden sie es für immer bleiben.“ Und tatsächlich: Diese Rose hier war die letzte, und sie blühte seit zwölf Jahren. Dort, wo die anderen gewesen waren, waren die Schnittstellen immer noch so frisch wie nach der Abtrennung, aber es waren keine neuen Triebe entstanden. Es war schon seltsam, fast wie Magie.
Er würde sie niemals hergeben. Diese letzte Rose war alles, was er noch hatte. So lange sie blühte, würde seine Mutter ihm immer noch zulächeln. So lange hatte sein Leben einen Sinn.
Seit dem Ereignis im Park hatte er so viele Freundinnen gehabt... die Geschichte hatte ihre Runden gemacht, und alle waren sie noch verrückter nach ihm gewesen, hatten ihm ihr Mitleid ausgesprochen, hatten gedacht sie konnten ihm helfen. Doch keiner hatte er vertraut; er hatte nie wieder richtig lieben können, seit damals, und deshalb viele Herzen auf dem Gewissen.
Nein- diese Rose würde er nicht hergeben.
 
8. Kapitel

Er besuchte das Grab seines Vaters jeden Tag; nicht zuletzt weil es direkt neben Mutters angelegt worden war. Die Leute, die ihn sahen, grüßten ihn stets höflich; Man hatte eine hohe Meinung von ihm; er hatte eine gute Arbeit gefunden, verwaltete die Erbschaft seiner Eltern geschickt. Sein trauriges Schicksal öffnete ihm den Weg zu den Herzen der Menschen; man fühlte mit ihm, oder dachte es zumindest; Es gehörte in der Stadt schon fast zum guten Ton, diesen traurigen, schönen Jungen ins Herz geschlossen zu haben. Er war stets höflich und freundlich, aber blieb immer verschlossen; Mit niemandem sprach er über das, was geschehen war.
Er stellte Bedienstete ein, die sich um das Haus kümmerten und den Garten wieder pflegten. Einzig und allein an die Rose seiner Mutter ließ er niemanden heran. Egal bei welchem Wetter und zu welcher Jahreszeit, er ging drei Mal am Tag hinaus, um sich um die Blume zu kümmern.
Nachts, wenn er allein und die Bediensteten fort waren, schrieb er manchmal stundenlang. Er hatte sich nie angewöhnt zu trinken wie sein Vater. Wenn er sich dann irgendwann einmal hinlegte weinte er sich in den Schlaf.
Es dauerte eine Zeit, bis ihm die Frau auffiel. Sie war zum ersten Mal an einem Tag im Frühling am Friedhof, einige Jahre nach dem Tod seines Vaters; von da an sah er sie jeden Tag um die selbe Zeit, ganz in schwarz gekleidet, wie er selbst, die Augen von einer großen, dunklen Sonnenbrille verdeckt; sie war nicht besonders groß und von zierlicher Statur. Sie stand einfach da und beobachtete ihn.
Wenn er sich umwandte, um nach Hause zurückzugehen, verließ sie den Friedhof in einer anderen Richtung.
Als es Sommer wurde und der Junge, mittlerweile sechsundzwanzig Jahre alt, das Grab seiner Eltern verließ, sprach sie ihn an.
„Es ist lange her, ein schreckliches Schicksal.“ Sagte sie mit einer angenehmen, hellen Stimme.
„Ja... ich komme zurecht.“ Antwortete er mechanisch, nicht abweisend sondern höflich, so wie er es immer tat. Sie jedoch machte keine Anstalten weiterzugehen sondern sah ihn leise lächelnd durch ihre dunklen Brillengläser an.
Ihm wurde eigenartig zumute in diesem Augenblick. Etwas kam ihm an dieser Frau vertraut vor.
„Ich verstehe Sie.“ Sagte sie.
Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte. Ein nicht zu deutendes Gefühl machte sich in ihm breit. Das einzige, was er schließlich hervorbrachte, war:
„Kennen wir uns?“
Sie lächelte etwas breiter und entgegnete gespielt nachdenklich:
„Es ist lange her.“
Dann nahm sie die Sonnenbrille ab und sah ihn aus ihren hellen, grün- grauen Augen an. Und endlich erkannte der Junge sie. Das Mädchen, mit dem er wirklich glücklich gewesen war... die kurze, aber glückliche Zeit von damals. Wie lange war es her... über zehn Jahre. Er wusste immer noch nicht, was er sagen sollte, und schließlich nahm er sie einfach in die Arme, drückte sie so fest an sich, wie er konnte. Heiße Tränen rannen seine Wangen hinunter, doch es war zum ersten Mal nach all den Jahren befreiend für ihn, zu weinen. Sie gab ihm Sicherheit. Sie verstand ihn.
Sie hatte ihn in all den Jahren nicht vergessen gehabt; auf einer Durchreise durch die Stadt hatte sie von einem Zeitungsverkäufer von ihm und seiner Angewohnheit gehört, täglich den Friedhof zu besuchen. Als sie ihn dann nach all der Zeit wiedergesehen hatte warf sie ihr altes Leben einfach über den Haufen, mietete sich eine Wohnung in der Stadt und beobachtete ihn jeden Tag auf dem Friedhof.
Sie unterhielten sich lange bis tief in die Nacht hinein; Der Junge erzählte von der Zeit, von Allem, was geschehen war; zeigte ihr die Schriftstücke, die er in seiner Verzweiflung geschrieben hatte; sie weinten beide, und doch waren sie glücklich.
Sie zog schließlich nach einiger Zeit zu ihm und nahm eine Stelle in der Stadt an; und nach einem Jahr heirateten sie glücklich. Es war ein rauschendes Fest, und die halbe Stadt war auf den Beinen. Es hieß, er hätte in dieser Frau endlich seinen Frieden gefunden.
Sie teilten jedes Geheimnis, ergänzten sich scheinbar vollkommen, und der Junge blühte wieder auf, war stets gut gelaunt und schien endlich die Entschädigung für all die Leiden gefunden zu haben. Er verreiste oft mit ihr, in alle Teile der Welt, und ihr Glück schien vollkommen. Sie und er waren seelenverwandt. Sie verstand ihn.
Es war an ihrem ersten Hochzeitstag, als sie beisammen auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen und sich tief in die Augen blickten. Sie hatten ein romantisches Abendessen hinter und den Abend noch vor sich. Er betrachtete den Diamant, der den Ehering an ihrem Finger zierte. Heute schien sie ihm noch atemberaubender als sonst. Da kamen ihm die Worte seiner Mutter von damals in den Sinn: „Wenn du ein Mädchen findest, das du wirklich liebst, und du das Gefühl hast dass sie dich ebenfalls liebt, dann schenke ihr eine dieser Rosen.“...“ Wenn ich dieses Mädchen wäre würde ich mich sehr über so eine Rose freuen.“
Er hatte so viele Fehler gemacht. Hatte jugendliches Ungestüm mit Liebe verwechselt. So viel Leid hatte er deswegen erdulden müssen. Nach und nach hatte er weggegeben, was ihm am teuersten war, ohne ernsthaft darüber nachzudenken.
Doch als er sie in diesem Moment ansah wusste er, dass sie diejenige, die einzige war, die für den Rest des Lebens an seiner Seite sein würde. Es würde kein Fehler sein. Er wollte alles, was er noch hatte, in ihre Hände legen. „Freude und Glück sind Dinge, die man am besten teilt.“ Das hatte seine Mutter gesagt. So sollte es sein.
Er erhob sich und lächelte ihr zu.
„Warte einen Augenblick.“
„Was hast du vor?“ Fragte sie scherzend, doch als er sich in Richtung Garten aufmachen wollte, hielt sie ihn zurück.
„Doch nicht etwa...“
„Warte es ab!“ sagte er lächelnd und wollte sich losmachen, doch sie hielt ihn fest.
„Nein, bitte nicht... es ist deine letzte!“
„Aber ich will sie dir schenken! Du hast meinem Leben wieder einen Sinn gegeben... ich kann ohne dich nicht mehr sein.“
„Aber im Garten ist sie viel schöner. Sie ist das letzte, was du von deiner Mutter hast. Sie wird verblühen, wenn du sie mir schenkst. Ich bin...“
„...die Einzige, die sie verdient, Schatz.“ Er beugte sich zu ihr herunter und verschloss ihre Lippen mit einem Kuss.
„Bitte... lass sie mich dir schenken.“
Sie sah ihn lange an und ließ dann zögernd seine Hand los. Sie ahnte nichts gutes, doch sie wusste auch, wie viel ihrem Mann dieses Geschenk bedeutete.
Der Junge indessen trat hinaus ins Freie. Es war eine angenehme, laue Sommernacht, und die Luft war erfüllt vom Zirpen der Grillen.
Er war ein wenig verwirrt von der Reaktion seiner Frau, doch das Glück in seinem Herzen verdrängte dieses Gefühl fast sofort wieder. Trotzdem saß er eine ganze Weile in Gedanken und Erinnerungen versunken vor der letzten Rose. Sie wippte leicht in der warmen Sommerbrise und schien ihm zuzunicken. Als wolle sie ihm sagen, dass er das Richtige tat, als er schließlich, so vorsichtig wie nie zuvor, den Stiel der Rose ergriff und ihn so wie damals eine Handspanne unter dem Kopf mit dem Fingernagel abknipste. Da hielt er es nun, das letzte Lächeln seiner Mutter, und ihm wurde doch ein wenig mulmig. Sie war so leicht und doch auf ihre Weise so schwer...
Er kehrte ins Haus zurück, setzte sich zu seiner Frau und legte die Rose in ihre Hände, welche er mit seinen eigenen umschloss. Tief sah er ihr in die Augen, als er sagte: „Ich werde dich immer lieben. Solange ich lebe und darüber hinaus.“
Sie meinte es ehrlich, als sie sagte: „Ich liebe dich auch... für alle Zeit.“

Sie verbrachten eine wunderschöne Nacht miteinander, die schönste ihres Lebens; doch in den frühen Morgenstunden, als es noch dunkel war, erwachte der Junge plötzlich unruhig. Er war in Schweiß gebadet. Erschrocken drehte er den Kopf, doch sie lag immer noch neben ihm, friedlich und fest schlafend.
Was war los? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er versuchte wieder einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht.
Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, erhob er sich und schlich aus dem Schlafzimmer hinaus ins Bad.
Als er sich im Spiegel betrachtete schien alles normal zu sein. Es war nicht mehr das Gesicht eines Jungen sondern das eines erwachsenen Mannes ,das ihn anblickte... eines glücklichen Mannes. War er das?
Er hatte alles, was er wollte. War nur ein wenig aufgeregt... Es würde sich wieder legen.
Der Junge beschloss ein Bad zu nehmen.
Während er das Wasser einließ dachte er daran, was für ein unglaubliches Glück er gehabt hatte. Sie hatte ihn nicht vergessen; hätte sie es getan so wäre er immer noch gefangen in diesem traurigen, farblosen, einsamen Leben. Keine andere Frau hatte ihm das geben können, was er nun durch sie besaß.
Als er langsam in die Wanne stieg hatte er ein etwas schlechtes Gewissen. Er hatte sie vergessen, hatte sein Herz so oft verschenkt ohne zu wissen was er tat, während sie stets nach ihm gesucht hatte... sie hatte so viel für ihn getan, hatte ihm damals geholfen wie heute, und wie dankte er es ihr?
Indem er ihr das gab, was ihm am meisten bedeutete, sagte eine leise Stimme in seinem Kopf. Ja, und das war die Wahrheit. Er hatte ihr die letzte Rose zum Geschenk gemacht.
Aber war dies genug? Eine Blume, und bedeutete sie auch noch so viel? Er wusste nicht, ob es ein ganzes Leben aufwiegen konnte.
Die Schuldgefühle wurden stärker. Was für eine unvergleichbare Frau war sie doch... sie war einzigartig, sie verstand ihn. Sie hatte das Beste, nur das Beste verdient. War alles, was er ihr geben konnte, überhaupt genug für sie?
Konnte sie mit ihm glücklich sein?
Er bewegte sich unruhig, und das Wasser der Badewanne plätscherte sachte. Der Junge spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Was war los mit ihm?
Es war, als spreche die leise Stimme in seinem Kopf lauter. War er gut genug für sie? Hatte sie nichts Besseres verdient? Er war nicht gut genug für sie.
Er kannte sie schon so lange... eine Frau wie sie konnte jeden Mann haben, den sie wollte. Sie konnte ihn einfach verlassen und einen besseren heiraten... und er stand wieder allein da. Dann würde er wirklich nichts mehr haben, noch weniger als nichts.
Mit einem Male hatte er furchtbare Angst. Sein Herz raste und sein Blick flackerte; und plötzlich kam ihm sein Großvater wieder in den Sinn. Bei Gott, er hatte diesen Mann und seine letzten Worte an ihn vollkommen verdrängt... Aber jetzt war es, als stünde er genau über ihm, mit gerötetem Gesicht und hervortretenden Augen, und schrie ihm jene verhängnisvollen Worte ins Gesicht.
Nein, er war ein Nichts, ein dämlicher Bengel... Er hatte das wertvollste das er hatte gegeben. In einem hatte der Alte Unrecht gehabt... Der Junge HATTE die Frau gefunden, die diese Rose wert war. Aber er war SIE nicht wert.
Sie würde ihn verlassen.
Er würde alleine sein.
Der Junge dachte an den Rosenstrauch im Garten, und er wusste, dass er nun verdorrt war, nicht mehr als ein Haufen brauner, unansehnlicher Stümpfe, die stolzen Dornen verkümmert, bald völlig unkenntlich.
Was hatte er getan?!
„Wenn du die letzte Rose aus den Händen gibst, wenn der Strauch leer und wertlos wie Unkraut ist, dann passiert das gleiche mit DIR!!“
Nein!! Es konnte nicht sein... doch plötzlich wusste er, dass es so war. Er hatte einen schrecklichen Fehler gemacht.
„DEIN Leben wird zu Ende sein, und du wirst vergehen wie die Rosen, die du so leichtfertig aus der Hand gegeben hast!!“
Nein... es sollte aufhören!! Er wollte nicht mehr leiden. Er wollte nicht noch einmal alles verlieren. Er sah die Packung mit Rasierklingen vor sich am Badewannenrand stehen.
„Ich hätte dich UMGEBRACHT für deinen Leichtsinn!!“
Mit zitternden Fingern und fast ohne Besinnung griff er nach den Rasierklingen, holte eine hervor und stieß die restliche Packung dabei um, so dass ihr Inhalt zu Boden fiel.
„Aber das brauche ich gar nicht! Du wirst es SELBST tun!! Wenn du die letzte Rose weggibst wirst du daran sterben!!“
Zwei Schnitte, tief und genau, und die Stimme seines Großvaters erstarb.
Der Junge betrachtete die tiefen Wunden, die in seinen Handgelenken klafften und wusste in diesem Augenblick, dass der alte Mann Recht gehabt hatte.
Doch eines hatte er nicht erwähnt.
So wie das Blut fast schmerzfrei aus seinen Adern quoll und das Badewasser rot färbte, so verschwanden auch nach und nach die bedrückenden Gedanken, all die Erinnerungen und das Leid, das er in seinem Leben hatte erdulden müssen.
Seine Frau hatte es geschafft, ihm einen Teil seiner Last abzunehmen. Doch das, was er gerade getan hatte, befreite ihn gänzlich davon, von Allem, was ihn je bedrückt hatte. Er wollte lächeln, doch mit einem Male war er unendlich müde. Das letzte, was er vor Augen hatte, war das Lächeln seiner Mutter und die Worte: „Wie wäre es, wenn du uns einen Eistee machst? Weißt du noch, wie das geht?“

Seine Frau fand ihn am nächsten Morgen in seinem eigenen Blut. Sie war so geschockt, dass sie in Ohnmacht fiel und erst nach einer halben Sunde wieder zur Besinnung kam. Dann musste sie sich übergeben, alles war auf einmal so anders, so falsch... sie dachte, sie hätte ihn verstanden. Sie dachte, er wäre glücklich gewesen.

Ein Auge, das aus Schmerz Tränen verliert, schliesst sich niemals wirklich. Und ein Herz, das einmal gebrochen wurde, kann niemals wieder vollständig heilen.
 
Wow... habs gelesen...

Ich bin beeindruckt. wenn man die ersten Kapitel mal hat, kann man nicht mehr aufhören, zu lesen - das gefällt mir.

Das Ende war übrigens nicht allzu überraschend, wenn auch nicht schlecht. Wesentlich subtiler fand ich da die erste Anspielung darauf, dass der Vater trank, die hast du wunderbar hingekriegt.

lg
tarha
 
Ja dem ist nichts mehr hinzu zu fügen.

Besonders gefallen allerdings hat mir der letzte Absatz:

Ein Auge, das aus Schmerz Tränen verliert, schliesst sich niemals wirklich. Und ein Herz, das einmal gebrochen wurde, kann niemals wieder vollständig heilen.
 
es freut mich sehr, dass euch die story gefällt ;) ihr müsst wissen, als ich die letzten kapitel geschrieben habe war ich selber ziemlich stark bewegt von der sache, da is es mir echt schwer gefallen mich noch zu konzentrieren. ich bin es halt irgendwie nciht gewohnt dramatische sachen zu schreiben sondern hatte bis jetz immer ein happy end. gott bin ich ein weichei... lol ;)

übrigens auch ein lob an euch dass ihr die ganze sache durchgelesen habt. is immerhin auch ne leistung :)
 
also ich hoffe sehr dass meiner deutschlehrerin die story so gut gefällt wie euch :) wenn die ferien zu ende sind werde ich ihr das ganze für den deutsch LK vorlegen.
 
hä? hab ich hierzu nicht schon einen beitrag verfasst?
das schickt mich jetzt.
naja, auf jeden fall finde ich es erste sahne was du geschrieben hast. absolut klasse. *lob*
 
Ui... soviel!
Hab nur das erste Kapitel gelesen, aber gefällt mir sehr, die Geschichte, hast dafür auch gleich mal Karma bekommen! :)
 
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