[Kurzgeschichte] "Der Kammerjäger" oder "Der Brief"

mikyra

Gott
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Hiho zusammen,

inspiriert durch ein Szenario, an dem @Thorwolf Hünenmörder gerade bastelt, habe ich die folgende Kurzgeschichte zusammen gestrickt. Eigentlich hatte ich vor, sie seinem Werk beizusteuern, habe im Nachinein aber festgestellt, dass mir bei der Umsetzung die Trash Komponente des Orwell meets Trash Settings ein wenig abhanden gekommen ist.

Ich hoffe sie macht trotzdem ein wenig Spaß beim Lesen. ;)

"Der Kammerjäger" oder "Der Brief"

Schon seit Tagen lag der Brief auf dem Tisch aus Mahagoni-Imitat, ohne dass er ihn geöffnet hatte. Nicht weil andere die Dinge, wie die Revonierung seiner Wohnung, die ihn die vergangenen Tagen nach Schichtende in Anspruch genommen hatte, Vorrang gehabt hätten.

Modrige Feuchtigkeit und Schimmel waren beständige Begleiter. Ein Übel, dessen Symptome nur oberflächlich abgewaschen und zeitweise mit den beißenden Dämpfen von Fungiziden und aggresiven Chemikalien übertüncht werden konnte. Das eigentliche Problem saß tiefer. Mangelnde Luftzirkulation und illegale Wasservorräte, die seit der letzten Rationierungswelle erneut reihenweise gehortet wurden. Feuchtigkeit, die von den aufgequollenen Trennwänden aufgesogen wurde wie von einem Schwamm und tief in die marode Bausubstanz eindrang. Ein Problem, mit dem nahezu alle Häuserblocks des Viertels zu kämpfen hatten.

Dennoch hatte er es nicht schlecht getroffen.

Die chronisch verstopften Filter des Belüftungssystems lieferten zumindest teilweise Schutz vor den giftigen Dämpfen und Abgasen des Terpentinwerks und der nahen Klebstofffabrik, deren schwarze Wolken vor allem bei Südwind tief in das Viertel eindrangen und den Fassaden der Häuser einen teerartigen Anstrich verliehen. Ein Umstand, der Bewohnern wie ihm eine deutliche höhere Lebenserwartung bescherte, als die einfachen Unterkünfte der umliegenden Arbeiterviertel.

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Zwei ein halb Kanister des Fungizids hatte er im Verlauf der letzten Tage im Wohnraum verteilt und dabei den Brief gedanklich beiseite geschoben. Anfangs hatte er noch darauf geachtet Mundschutz und Schutzbrille zu tragen, wie es die Arbeitsanweisung vorsah. Hatte sie dann aber beiseite gelegt, als er festgestellt hatte, dass die ätzenden Dämpfe der Chemikalie seine Nase befreiten und der chronischen Reizung seiner Atemwege ein wenig Linderung verschafften. Nun war sein Werk abgeschlossen und sein Blick fiel erneut auf jenen Brief, dessen Absender ein so eindeutiger Vorbote des zu erwartenden Inhalts war.

Eignentlich haftete dem offiziellen Schreiben, gegen dessen Öffnung er sich die vergangenen Tage so erfolgreich zur Wehr gesetzt hatte, nichts Ungewöhnliches an. Jeder, der das vierzigste Lebensjahr überschritten hatte, musste seine Leistungsfähigkeit und seinen wirtschaftlichen Nutzen in regelmäßigen Kontrollen und Tests unter Beweis stellen, um für eventuell angezeigte Umstruktierungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen. Und doch lag der Brief noch immer ungeöffnet und versiegelt auf dem Tisch.

Einen genauen Grund für sein Zögern konnte er nicht benennen. Es war nicht das leichte Zittern, das sich schon seit einer geraumen Weile seiner rechten Hand bemächtigt hatte und auch nicht die schwindende Sehkraft seines linken Auges, die ihn beunruhigte. Beide hatte er bei vorangegangenen Tests stets erfolgreich vor den Datentypisten des Gesundheitsamtes verbergen können. Jenen Erfüllungsgehilfen, die gelernte Mediziner und Ärzte ersetzt hatten und pausenlos gesammelte Messdaten in die Großrechner der Behörde hämmerten. Rechenmonster, deren Gier nach Daten durch die beständig steigende Verarbeitungsgeschwindigkeit gnadenlos arbeitender Alogrithmen in atemberaubendem Tempo stieg.

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Es war vor vollem die Müdigkeit, die ihm Sorge bereitete. Eine Müdikeit, die nicht nur seinen Körper betraf, sondern sich auch - und vor allem vor allem - ebenso geistig bemerkbar bemachte. Eine gewisse Abgeschlageneheit und Mattigkeit, über deren Ursache er sich kein klares Bild verschaffen konnte und die er nicht genau benennen konnte.

Dabei war es nicht einmal so, dass ihn seine Arbeit übermäßig strapaziert oder gelangweilt hätte. Als Kammerjäger war er beständig neuen Situationen und Gefahren ausgesetzt, die er im Laufe einer beachtlichen Karriere stets zu meistern gewusst hatte. Die vielen Dienstjahre, die er auf den Straßen verbracht hatte, waren ein stolzer Erfolg, den nicht viele seiner Berufsgenossen vorweisen konnten.

Dabei war er nicht einmal besonders zimperlich gewesen, ja beinahe schonungslos mit seinem Körper umgegangen. Hatte nicht nur vereinzelt gereinigt und desinfiziert, sondern ganze Straßenzüge leerstehender Häuser von Obdachlosen, Schaben und anderem Ungeziefer befreit. Hin und wieder sogar den ein oder anderen Mutanten verhaftet oder zur Strecke gebracht.

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Und doch erfasste ihn immer häufiger diese tiefe Müdigkeit, die schwerer wog als alle körperlichen Leiden, mit denen er im Laufe seiner Dienstzeit konfrontiert gewesen war. Eine Mattigkeit, die sich bis hinein in seine Glieder erstreckte. Sie bleiern machte und schwer und ihm das morgendliche Aufstehen von Tag zu Tag schwerer machte.

Er träumte nun wieder häufiger. Häufiger noch als in seiner Kindheit. Stets den selben Traum. Jenen Traum, den er bereits so oft in seiner Kindheit geträumt hatte, den er im Laufe von Jahrzehnten aber beinahe vollständig aus seiner Erinnerung gelöscht hatte.

Wolken, die über einen blauben Himmel zogen.
Apfelbäume, die gerade in der Blüte standen und deren Blütenblätter von einem zarten Windhauch bewegt tanzend zu Boden fielen.
Wärme, die ihn umfing und entferntes Läuten von Glocken, das an sein Ohr drang.​

Erst lange nach der Verhaftung seines Vaters und nach dessen Tod, war er auf jenen Hinweis gestoßen, der ihn vermuten ließ, dass dieser Traum mehr war als bloße Einbildung und reines Produkt seiner Phantasie. Eine alte vergilbte Fotografie, die er im Nachlass seines Vaters gefunden hatte, war damals Auslöser einer Reihe von Nachforschungen gewesen. Teil einer tief verborgenen Erinnerung, die eine Szene zeigte, die gespensterhafte Ähnlichkeit zu den Bildern seines Traumes aufwies.

Im Vordergrund ein junger Mann, in dem er die Gesichtszüge seines Vaters wieder erkannte. Einen jungen Säugling im Arm haltend. "Beerdigung Großvater" war in der Handschrift seines Vaters auf der Rückseite der Aufnahme vermerkt. Erst bei seinen Nachforschungen hatte er mehr über jenen eigenartigen Brauch erfahren, dem man bei der Entsorgung und Wiederverwertung verstorbener Angehöriger seinerzeit nachging. Lange bevor die Sterbeheime erfunden wurden, die ersten Verwertungs-Manager auf den Plan traten und die ersten Biomasse-Recycler in Betrieb gingen.

Sein Blick fiel auf das Foto, das neben einer angebrochenen Flasche Synth der einzige Gegenstand war, der das kahle Brett der Schlafnische zierte, das ihm als Nachttisch diente. Warum hatte er das Bild noch nicht weg geworfen? Anhänglichkeiten wie diese waren nicht nur ein gänzlich aus der Mode gekommener Makel. Sie waren auch eine gefährliche Schwäche, die sich jederzeit rächen konnte. Und doch hatte er die Fotografie aufgehoben. Eine verblassende Aufzeichnung einer verblassenden Erinnerung.

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Er griff nach der Flasche. Nahm einen tiefen Schluck und wandte sich dem Tisch zu, auf dem noch immer der Brief lag. Beschwert mit seiner Dienstwaffe und noch immer ungeöffnet.

Der Synthohol tat seine Wirkung und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Bei B-Ware war das durchaus üblich. Ersatzstoffe, die bei Knappheit der Aromen im Abfüllwerk zum Einsatz kamen und Nachlässigkeiten bei der Reinigung der Rohre zählten dabei zu den häufigsten Ursachen dieses Makels. "B-Synth ist gut" wiederholte er den Slogan, den die beständige Schleife der aktuellen Werbekampagne mantraartig in das Gehirn der Konsumenten hämmerte und spürte, wie sie langsam aber beständig ihre indoktrinierende Wirkung entfaltete. Der bittere Nachgeschmack verblasste nach und nach und wich einem angenehm köstichen Aroma. B-Synth war gut!

Dann öffnete er den Brief.

Die Nachricht hätte ihn nicht härter treffen können. Schwindel befiel ihn, als er die relevante Zeile mit seinem guten rechten Auge erneut in Augenschein nahm. Tauglichkeits-Einstufung D. Jeder, der diese Nachricht erhielt, wusste, was sie bedeutete.

Kein C, C+ oder B-, bei dem eine relle Chance auf Rückstufung bestand, und selbst im schlimmsten Fall Rekonditinierung und Neuzuweisung so gut wie sicher waren. Nicht so bei Stufe D. Unterbringung im Sterbeheim bis zur Aussprache der Verwertungs-Empfehlung durch die Großrechner des Amtes für Pflege und Versorgung. Entkörperung und Extraktion verwertbarer Organe und wirtschaftlich einträglicher Substanzen zwecks Reintegration in den Produktionskreislauf. Auch er kannte die unausweichlichen Konsequenzen der Stufe D und hatte geglaubt sich gegen diesen Fall abgesichert zu haben.

Wie wenig er tatsächlich auf diesen Moment vorbereitet war und wie sehr er darauf gehofft, ja sich insgeheim darauf verlassen hatte, ihm entgehen zu können, wurde ihm erst jetzt bewusst. Ob er der einzige war, dem die Unabwendbarkeit des Eintreffens der gestellten Diagnose erst in diesem Moment klar wurde? Richtig klar. Klar in einem Sinn, der über den einer unbestreitbaren Tatsache oder eines zwingenden Sachverhalts haus ging. Der jenseits der nüchternen Logik mathematischer Kalküle lag, weil er neben Prämisse und Konklusion zudem auch die wahre Bedeutung all dessen umfasste, was sie beinhalteten.

Jämmerlicher Gedanken und falsche Hoffnung! Er gab sich selbst einen Ruck und schritt zur Tat.

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Brennender Schmerz empfing ihn, als sich das Fungizid in seinem Körper verteilte. Sich einen Weg in seine Eingeweide fraß und seine Speiseröhre verätzte. Er hustete, spie einen Schwall der giftigen Chemikalie aus, ehe sie seine Lungen flutete und ihm die Luft zum atmen nahm. Beinahe augenblicklich stürzte er zu Boden.

Sein Verstand und seine Seele waren vorbereitet. Hatten die Unabwendbarkeit seines Schicksals längst akzeptiert und sich den unwiederruflichen Konsequenzen bereitwillig gefügt. Doch sein Körper rebellierte. Focht einen Kampf gegen die Chemikalie, der nicht zu gewinnen war. Ließ ihn abtauchen in eine Welt des Schmerzes, die seine Sicht in wildes Zerrbild tanzender Farben und Lichter zerfließen ließ.

Er wusste nicht wie lange er schon am Boden lag. Wusste nicht, ob sein Körper schlussendlich nachgegeben und ihn in einen Dämmerzustand versetzt hatte, oder ob er schon tot war. Ein Gefühl innerer Ruhe und Gelassenheit machte sich in ihm breit und eine angenehme Wärme umfing ihn. Er öffnete die Augen. Erwartete einen blauben Himmel zu sehen, Apfelbäume, deren Blütenblätter tanzend zu Boden fielen. Dann hörte er das enternte Klingen von Glocken.

Doch es war kein blauer Himmel über ihm, als er die Lider seiner Augen hob. Kein Blütenregen und keine Apfelbäume empfingen ihn. Es war die graue Leere der Decke seines Zimmers, in die seine Augen starrten. Und auch die Glocken waren nicht die seines Traumes.

Die Türklingel! Begann er zu begreifen. Und er begriff noch mehr. Durchschaute, warum die klebrigen Speichelfäden, die ihm von beiden Mundwinkeln herab hingen, zwar seine Kleidung verätzt aber seine Haut verschont hatten. Verstand, warum das Fungizid ihn die vergangenen Tage so frei hatten atmen lassen. Erkannte, warum er noch immer lebte, obwohl er mausetod hätte sein sollen.

"Mutant!" Brachte er mit einem irren Lachen hervor."Dreckiger Mutant!"

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Risikoklasse A.
Rekonditionierung und Reintegration ausgeschlossen.
Strikte Isolation und rückstandslose Auslöschung degenerierter und kontaminierter Biomasse erforderlich.
Vorgehen nach Arbeitsanweisung A-27.
Erhöhte Aufmerksamkeit.​

Lange genug war er selbst Teil der Einsatzkräfte gewesen, kannte die Vorschriften genau. Er musste dieser Perversion ein Ende setzen. Die Dienstwaffe! Kam ihm beinahe augenblicklich in den Sinn. Sie lag noch immer auf dem Tisch aus Mahagoni-Imitat. Dort, wo sie ihm als Briefbeschwerer gedient hatte.

Mühsam und unter pochenden Schmerzen kämpfte er sich vor bis zur Außenwand des Appartments und und zog sich am Fenstersims empor. Mit einem heftigen Schlag donnerte sein Schädel gegen die Glascheibe der Häuserfront, als er für einen kurzen Moment das Gleichgewicht verlor und sich nur knapp abfangen konnte. Ding Dong - Hämmerte es in seinem Kopf, während die Türklingel ein weiteres Mal aufschrie.

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Bravo-Team! Fuhr ihm der Schreck in alle Glieder. Die Urheber des Klingelns, die sich sicher bereits auf der Etage befanden und sich vor seiner Wohnungstür verschanzt hatten, konnte er von hier oben zwar nicht ausmachen, doch das Einsatzfahrzeug, das vor dem Wohnblock stand war unverkennbar. Erfahrene Einsatzkräfte, unterstützt von ein bis zwei Jägern des Amts für Innere Sicherheit.

Die Großrechner mussten schnell gewesen sein. Ihre Berechnungen bereits gestartet haben, während der Brief noch immer ungeöffnet auf dem Tisch aus Mahagoni-Imitat lag. Mussten bei ihrer Analyse den latenten Defekt seiner DNA noch vor ihm selbst entdeckt haben. Nur wenig Zeit würde ihm bleiben, ehe die Einsatzkräfte die Tür aufbrechen würden. Er musste schnell sein, wenn er ihnen zuvor kommen wollte.

Vornüber fiel er auf den Tisch zu. Fing seinen Sturz auf der Tischplatte ab und schlug erneut heftig auf. Dann griff er nach der Dienstwaffe. Ob es bereits einsetzende degenerative Prozesse seiner Mutation waren, das Nahtoderlebnis, oder die zersetzende Wirkung des Traums, die schon so lange an ihm nagte, hätte er nicht beurteilen können. Noch in dem Moment, in dem sich die Finger seiner Hand um den Griff der Waffe schlossen, entschied er sich um.

Ach scheiß drauf! Ihr wisst, mit wem ihr euch angelegt habt!

Mit einem routinierten Handgriff lud er die Waffe durch. Zeitgleich versetzte er dem Tisch aus Mahagoni-Imitat einen heftigen Tritt, um hinter ihm in Deckung zu gehen. Im selben Moment brachen die Einsatzkräfte die Tür auf.

Der erster Schuss zerschmetterte sein Schlüsselbein. Ließ eine rote Fontäne warmen Blutes durch den Raum spritzen, die sich quer über die Glasfront verteilte. Der zweite Schuss durchschlug die Tischplatte und bahnte sich einen Weg in seine Eingeweide. Der dritte Schuss traf tödlich.

Natürlich hatte er keine Chance.

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Erneut drang der entfernte Klang von Glocken an sein Ohr. Er lag nun auf der offenen Ladefläche des Gefahrgut-Transports, der sich einen Weg durch die Außenbezirke der Stadt bahnte. Zusammen mit der restlichen Beute des Tages. Leblosen Überresten zahnloser Alter und dreckiger Kinder mit schmutzigen Füßen und ohne Schuhe. Die Zugmaschine des Konvois donnerte erneut durch ein Schlagloch. Ein unzureichend gesicherter leerer Blechkanister schlug erneut gegen die Bordwand und erzeugte ein weiteres Mal jenen blechernen Klang, der ihn entfernt an den Klang von Glocken erinnerte.

Es war wie in seinem Traum. Nur dass der Himmel über ihm nicht blau war. Sondern ein schwarzes Meer sternloser Leere, auf dem grüne und orangefarbene Giftwolken tanzten, wie ein öliger Film auf Wasser. Die Schlote der Krematorien spuckten dichte Wolken in den Himmel und Asche regnete auf ihn hinab. Wie Schneeflocken an einem kalten Wintertag oder die Blütenblätter eines Apfelbaums im Frühling.

Dann starb er. - Ausgeträumt!
 
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