Rezension Horror im Orient-Express - Band 4: Über den Balkan nach Konstantinopel [B!-Rezi]

Toa

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Horror im Orient-Express 4: Über den Balkan nach Konstantinopel


Cthulhu Abenteuerband


Mit dem vierten Band findet die Orient-Express-Kampagne ein Ende - auf die ein oder andere Weise. Wo schon im ersten Band eine hohe Charaktersterblichkeit angedeutet wurde, offenbaren sich hier die Gründe: auf dem Weg zum Finale lauern viele Gefahren für Leib und Verstand, und es wird nicht einfach für die Charaktere ihre Aufgabe unversehrt zu erfüllen. Im Lieferumfang enthalten ist zudem die Box, die Platz für alle Bände und Handouts bietet.

Warnung! Rezension enthält Spoiler!

Abenteuer
In Das merkwürdig abgelegene Haus im Wald erreichen die Spielercharaktere Belgrad und setzen die Suche nach den Teilen des Simulakrums fort. Nachdem ihnen zuerst eine Fälschung untergejubelt wird, finden sie jedoch bald - nach einigen bürokratischen Schiebereien - einen neuen Hinweis: ein Pfarrer in einem abgelegenen, kleinen Kaffs liefert dem Museum in Belgrad viele Statuenteile. Natürlich begeben sich die Charaktere in dieses Kaff und verfolgen die Spur weiter zu einer alten Sammlerin, die in einer Hütte im Wald lebt. Just als sie meinen von der alten Frau den ersehnten Arm des Simulakrums zu erhalten, offenbart sich diese plötzlich als die Göttin Baba Jaga und tötet - mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit - umgehend einen Charakter. Dem Rest bleibt kaum eine andere Wahl als sich den Arm zu krallen und zu flüchten - woraufhin dem Haus Beine wachsen und es sie verfolgt. Doch nicht nur, daß eine gute Chance besteht vom Haus niedergetrampelt zu werden, nein, auch Baba Jaga selbst gibt sich fliegend die Ehre einen Charakter nach dem anderen tot zu knüppeln. Einzig plausible Rettung: ein magischer Kamm, den die Charaktere eventuell im Dorf erhalten haben, und an den man in dieser Situation auch erstmal noch denken muß (blöd natürlich, wenn der Charakter mit dem Kamm gleich als erstes in Baba Jagas Ofen gelandet ist). Dieses extreme Szenario muß beim Playtest wohl einigen Gruppen sauer aufgestossen sein, denn es findet sich bereits ein Seitenkasten, wo die Begegnung mit Baba Jaga als "extrem, ja unfair tödlich" bezeichnet, und die Möglichkeit sie durch ein Szenario mit Zigeunern zu ersetzen angeboten wird. Mehr Freiheit wurde Pegasus bei der Übersetzung wohl nicht gelassen...
Für die Überlebenden lauert auf der Weiterfahrt nach Sofia, wo das letzte Teil des Simulakrums - der Kopf - vermutet wird, jedoch schon die nächste Gefahr: ein Bruder der Haut hat sich an Bord geschlichen um einem Charakter den Kopf zu klauen (den eines Charakters, nicht des Simulakrums!). Als ihm das nicht gelingt gibt er sich mit einem Auge zufrieden und entkommt - einfach so. Was anfangs noch als krasser Einschub erscheint, erweist sich bald als Plot Device: der Charakter erhält durch das verlorene Auge, das sich der Bruder der Haut eingepflanzt hat, Visionen, die fortführende Hinweise liefern. Nach einem Umweg über die Universität in Sofia, wo der Kopf von den Brüdern der Haut entwendet wurde, begibt man sich auch zu deren lokales Hauptquartier in einem Höhlensystem, nur um festzustellen, daß man zu spät ist: sämtliche Brüder sind tot, auf brutalste Weise in Fetzen gerissen (was auch die Wiederbeschaffung des Auges hinfällig macht). Was die Spieler an dieser Stelle nicht wissen: der Vampir Fenalik wurde ungeduldig und hat sich selbst um die Wiederbeschaffung des Kopfes gekümmert. Den Spielern ist es nun einfach bestimmt mit leeren Händen weiterzufahren...
... um direkt in die nächste Todesfalle zu laufen: den Massenmord im Orient-Express. Da nun sämtliche Teile ergattert wurden, beschließt Fenalik sich seiner unwissenden meschlichen Handlanger zu entledigen. Die Charaktere erwartet also eine Auseinandersetzung mit einem vollblütigen Vampir, der bereits - je nach Abenteuerverlauf - eine Bande von Zugräubern und eine Niederlassung der Brüder der Haut auf seinem Gewissen hat. Unnötig zu erwähnen, daß auch dies wahrscheinlich nicht ohne Verluste auf Seiten der Spielercharaktere geschehen wird. Nichtsdestotrotz gestaltet sich das Szenario einer Vampirjagd in einem fahrenden Zug recht interessant - es werden einige Möglichkeiten vorgeschlagen wie dem Vampir Einhalt geboten werden kann, so daß sich das Baba-Jaga-Szenario nicht zwangsläufig wiederholt. Dennoch bedeutet meist auch nur ein falscher Schritt eines Charakters seinen schnellen Tod...
Sollten sich nun tatsächlich noch Spielercharaktere in der Gruppe befinden, so gelangen diese an das Ziel ihrer Reise: Konstantinopel, die Heimat derer, Die auf der faulen Haut liegen. Hier suchen die Charaktere nun nach der Methode und nach dem Ort (der Gemiedenen Moschee) um das Simulakrum ein für alle Mal zu vernichten. Beim Aufeinandertreffen der Kulturen wird es sich kaum verhindern lassen, daß die Gruppe von den Brüdern der Haut - in Form von Übersetzern oder Stadtführern - unterwandert wird. Und auch Mehmet Makryat heftet sich an ihre Fersen. Die Charaktere werden eventuell von britischen Botschafter angeheuert seinen vermissten Sohn zu finden - eine Spur, die rein zufällig auch zu den Brüdern der Haut führt. Abgesehen von einem Kampf mit einem Fettblob in einem türkischen Bad steht auch nicht mehr viel zwischen den Charakteren und ihrem Ziel... wenn sich selbiges nicht als Hinterhalt entpuppen würde. Eventuell fallen dabei einige (oder alle) Charaktere, garantiert aber das Simulakrum in die Hände der Brüder der Haut, bzw. die ihres Anführers Selim Makryat. Ein verkleideter Mehmet Makryat sammelt die entkommenen Charaktere auf und führt sie - unter dem Vorwand ihnen helfen zu wollen - zur Gemiedenen Moschee. Während die Charaktere noch planen, wie sie die Brüder aufhalten, offenbart Mehmet: er stürzt seinen Vater und reißt die Macht des Simulakrums selbst an sich. Umgehend läßt er die Charaktere festsetzen... worauf sie ihrem alten Freund und angeblichen Auftraggeber Professor Smith wiederbegnen... oder besser gesagt dem, was die Brüder von ihm übrig gelassen haben. Es kommt zur grossen Plot-Offenbarung, und Mehmet ergeht sich im archetypischen Schurken-Monolog und berichtet von seinen Plänen mit den Kräften des Simulakrums die Identität eines hohen englischen Adligen anzunehmen. Des Weiteren unterliegen die Spieler nun dem Fluch, der alle Besitzer des Simulakrums ereilt: beschleunigter körperlicher Verfall. Die einzige Rettung ist ein Ritual der Reinigung, wozu sie das Simulakrum benötigen. Also nichts wie ausgebrochen und per...
... Blauer Zug in schwarzer Nacht zurück durch Europa. Dieses Szenario ist im Vergleich zu den anderen sehr offen gestaltet. Die Charaktere wissen, daß Mehmet Makryat sich an Bord des selben Zuges wie sie befinden müssen, und es beginnt das große Rätselraten: wessen Haut hat er nun gestohlen? Ein Stab an verflochtenen NSC-Passagieren, die sich untereinander selbst nicht ganz im Reinen sind, bietet dem Spielleiter die ideale Möglichkeit Paranoia unter den Spielern zu schüren. Dieses Kapitel liefert endlich was zumindest ich mir von Anfang an von dieser Kampagne erhofft habe: eine Kriminalgeschichte mit vielen Verdächtigen in Form von Passagieren. Auf dem Weg zurück durch Europa erwartet sie ein Wiedersehen mit bekannten Gesichtern (wobei Baba Jaga glücklicherweise nur als (enttäuschend?) harmloses Schreckgespenst auftaucht), was eventuell in ungeahnten Bündnissen resultiert. Sollten die Spieler Mehmet frühzeitig auf die Schliche kommen und ihn ausschalten ist das zwar schade (das Szenario bietet viiieeele Möglichkeiten), aber nicht verheerend - exakt das soll nämlich schlußendlich geschehen.
Mehmet Makryat ist höchstwahrscheinlich tot und Der Nebel lichtet sich. Die Charaktere kehren mit dem Simulakrum zu Makryats Antiquitätenladen in London zurück um das Ritual der Reinigung durchzuführen... wäre Mehmet nicht so schlau gewesen genau diesen Ausgang vorauszuahnen und entsprechend Vorbereitungen zu treffen. Anstatt der Reinigung vollziehen die Charaktere Mehmets Wiederbelebung und müssen sich nun im endgültigen Finale ihm und dem einzig wahren Hautlosen stellen... wobei mit höchster Wahrscheinlichkeit noch ein letzter Charakter sein Leben lassen muß.

Material
Die zweite Hälfte des Buches enthält die Regionalbeschreibungen für den Balkan - genauer Jugoslawien (16 Seiten) und Bulgarien (12 Seiten) - und die Türkei (massiv mit 40 Seiten, davon 16 Konstantinopel). Im gewohnten Manier werden hier geographische und historische Fakten der vorgestellten Länder und ihrer Hauptstädte zur Verwendung als Hintergrundmaterial für Cthulhu-Szenarien aufbereitet, sowie direkt Möglichkeiten vorgestellt kulturelle Realität mit dem Mythos zu verknüpfen. Auch wenn ich bezweifle, daß es viele Cthulhu-Runden geben wird, die diese Region als Basis für ihre Kampagne wählen, so bieten sich jedoch mehr als genug Möglichkeit für abenteuerliche Expeditionen.
Das Sammlerherz freut sich ganz besonders über die mitgelieferte Box im passenden Design, in der tatsächlich sämtliche Bände mit Zubehör Platz finden. Mehr aber auch nicht - die Box ist damit proppevoll und extrem gewichtig. Sieht nichtsdestotrotz gut aus und hat auch einen praktischen Nutzen - was will man mehr?

Aufmachung
Wer diese Rezension liest hat wahrscheinlich bereits entweder die der Vorbände oder gar jene selbst gelesen und weiß was ihn erwartet. Nichtsdestotrotz, der Vollständigkeit halber noch einmal: die Bände wurden gegenüber dem Original gehörig aufgewertet. Festes Papier, kontemporäre Photographien ersetzen Chaosium-Illustrationen, extrem hochwertige Hintergrund-Illustrationen, eine Uhr statt einer Seitenzahl (immer nocgh gewöhnungsbedürftig), genial aufgemachte Handouts ... kurzum, gewohnte Pegasus-Qualität.

Fazit
Das ist es also - das Ende der Orient-Express-Kampagne. Nun verstehe ich auch die Gründe für die in Band 1 genannte Charaktersterblichkeit von 70%. Als ob die Begegnung mit Baba Jaga (die rein hintergrundtechnisch übrigens überhaupt keine weitere Bedeutung für die Kampagne hat) die Reihen der Charaktere nicht schon genug lichten würde, wird mit Fenalik direkt im Anschluß nochmal ein dicker Brocken nachgelegt. Der Spielleiter einer Gruppe, die sehr an ihren Charakteren hängen, tut gut daran dem Ratschlag des Seitenkastens folge zu leisten und Baba Jaga durch Zigeuner zu ersetzen. Die Kampagne verliert dadurch nicht an Atmosphäre, nur eben an... Tödlichkeit. Wobei das für manche ja auch gerade den wahren Schrecken an Cthulhu ausmacht - insofern sind beide Fraktionen bedient. Desto weiter die Charaktere jedoch in den Balkan vordringen, umso unwahrscheinlicher wird der Austausch verstorbener Charaktere durch Freunde und Verwandte. Auf der Rückfahrt besteht glücklicherweise die Möglichkeit einige geeignete NSCs zu übernehmen, die uneingeschränktes SC-Potential haben. Eventuell empfiehlt es sich sogar von vorne herein Zweit-SCs zu erstellen und diese als beiläufige NSC-Passagiere an den kritischen Stellen mitfahren zu lassen.
Das Szenario mit Fenalik ist zwar ebenfalls knackig, aber wesentlich offener und "fairer" bzw. machbarer gestaltet. Vor allem aber ist es atmosphärischer und kreativer - eine Vampirjagd in einem fahrenden Zug voller Zivilisten bietet für beide Seiten nicht die optimalen Bedingungen.
Das Finale mit Mehmet erfordert noch einen obligatorischen Charaktertod - der Schurke braucht eine Haut in die er fahren kann, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß zu diesem Zeitpunkt nur die Spielercharaktere anwesend sind. Das bedeutet allerdings für einen Spieler das passive Zuschauen bzw. den sado-masochistischen Rollenwechsel zu Mehmet Makryat - der ab diesem Zeitpunkt allerdings auch kaum etwas anderes tut als Angriffe gegen die Charaktere zu würfeln. Die Auflösung des Finales erfordert einen Geistesblitz, dürfte sich im tatsächlichen Spiel jedoch nicht als zu schwer erweisen.
Besonders gefallen hat mir jedoch das Szenario "Blauer Zug in schwarzer Nacht". Das Szenario ist trotz eines ausformulierten möglichen Verlaufs offen gestaltet. Der Spielleiter bekommt dank des Leitfadens ein Bild davon wie die Geschehnisse ablaufen können und kann entsprechend der Handlungen seiner Spieler selbst eine Verwirrungsgeschichte spannen. Das war's was ich mir von der Kampagne erhofft habe, und es ist schön zu sehen, daß es auch seinen Platz gefunden hat.
Die Selbsterkenntnis von Seiten Pegasus in Form des Seitenkastens mit einem alternativen Szenario für "die Baba-Jaga-Situation" bewahrt diesen Band vor der Drei-Punkte-Wertung. Dennoch sollte dem Spielleiter bewußt sein, daß just bei diesen Abenteuern Vorsicht geboten ist, wenn er nicht die gesamte Gruppe mit einem Schlag töten und somit den Kampagnen-Zug zu einer Notbremsung bringen will. Davon abgesehen wechseln sich spannend und atmosphärisch aufgemachte Szenarien mit solchen ab, in denen die Charaktere leider nur hilflose Beobachter sind - letzteres leider vielleicht etwas zu oft. Daher auch nur vier Punkte für ein ansonsten durchaus gelungenes Finale (bzw. drei Punkte, wenn man die hohe Charaktersterblichkeit nicht verzeihen kann).Den Artikel im Blog lesen
 
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