AW: Hinterher aufklären?
Nachdem sich die hiesige Diskussion um den Sand in den Getrieben reiner Ermittlungs-/Detektiv-Szenarien festzufressen scheint, möchte ich mal was zum Eingangsbeitrag sagen.
Apocalypse schrieb:
Wie handhabt Ihr das eigentlich, wenn die Charaktere durch die Geschichte stolpern wie Blinde Hühner und die Spieler so einfach einen Gutteil der Geschichte einfach verpassen?
Nämlich das hier:
Zornhau schrieb:
Ich will mich von meiner Erwartung, wie ein Abenteuer wohl laufen wird, verabschieden müssen/dürfen. Ich will durch mir nie in den Sinn gekommene Wege, Vorgehensweisen, Ideen überrascht werden.
Wenn die Spieler den "Gutteil der Geschichte einfach verpassen", was wurde denn dann stattdessen in den vielen Stunden Rollenspiel gespielt?
Wenn ich als Spielleiter mit der Erwartungshaltung zur Spielrunde komme, daß ich die Spieler an einer (möglichst vollständig, So-wie-ES-geschrieben-steht (tm) durchzuspielenden) Geschichte teilhaben lassen möchte, warum mache ich nicht lieber einen Vorleseabend daraus?
Wenn die Spieler nicht jederzeit durch ihre Entscheidungen die Möglichkeit haben, die "Story", so wie sie zumindest gedacht, vorbereitet und in ihrem Ansatz angespielt wurde, zu kippen, in IHRE Richtung, eben dahin, wo die Spieler mit dem Wissen ihrer Charaktere urteilend hinwollen, zu bewegen, dann ist das langweilig. (KotDT: Schick mir 'nen Ausdruck, ich lese dann später, wie das Abenteuer ausging.)
Klar lese ich als Spielleiter die Kauf-Szenarien, die ich spielen will, vorher durch. Klar habe ich bei Selbstgebrautem meine Ideen und Erwartungen wie das ablaufen wird.
Aber: selbst beim geradlinigsten, einfachsten Szenario habe ich erleben dürfen, wie unterschiedliche Gruppen das in völlig andere Richtungen haben laufen lassen. - Und zwar, weil ich sie dahin lasse. Ich mag es selbst als Spieler nicht durch "Railroading" meiner Entscheidungsfreiheit merklich beraubt zu werden. "Merklich" deshalb, weil ein geschickter Spielleiter Situationen so einfädeln kann, daß man sich "frei" für etwas entscheidet, was aber im Sinne und in der Erwartung des Spielleiters liegt. Da ist dann die "gefühlte" Entscheidungsfreiheit der wichtige Punkt. Eine "gefühlte" Zwangsmaßnahme der Spielleitung hingegen empfinde ich als Spaßkiller.
Wenn ich selbst als Spielleiter es in manchen Situationen nicht schaffe, die Spieler so in eine Lage zu bringen, daß deren Entscheidungsfreiheitsgrade auf den von mir gewünschten Anknüpfpunkten enden, dann ist das gerade eines der Spannungselemente, welche ich als Spielleiter zu schätzen weiß. - Machen die Spieler etwas Unvorhergesehenes, so muß ich darauf reagieren, da ihre Handlungen in der Spielwelt ja Fakten sind. Aufgrund der dann neuen oder nicht erwarteten Faktenlage muß ich mein Spielweltgefüge anpassen und in sich nachvollziehbar reagieren lassen. - Da das auf der Basis von Unsicherheiten erfolgt und zudem noch (im Normalfalle) sofort von mir etwas erwartet wird, ist das für mich wie Achterbahnfahren (im positiven Sinne). Mir macht genau das Spaß. Ich lasse mich gerne überraschen von alternativen Abläufen, die aus dem Szenario, welches ich ja als Spielleiter schon gelesen habe, und wo es ja geradezu langweilig wäre, wenn es genauso ausginge, wie ich das erwarten würde, etwas neues machen.
Für mich stellt ein vorgefertigtes Szenario nur das Potential für Handlungen dar. Nur eine Momentaufnahme und eine Art "Hellsehen" in die Zukunft der Spielwelt, die aber eben durch Spielereinfluß sich ganz anders einstellen mag.
Apocalypse schrieb:
Auf Cons hab ichs früher immer so gehalten, dass ich am Schluss ne Aufklärung geliefert habe.
Das finde ich Scheiße. Das bedeutet ja, daß man gemeinsam Spaß am Spiel hatte, und nachher gesagt bekommt, wie blöde man doch war, was alles man nicht mitbekommen hat, wie viele cooler es hätte werden können, wenn man nicht so doof gewesen wäre, dem einzigen Informaten nicht zu trauen (Stichwort: "single point of failure" in Szenarien).
Bei manchen (wenigen) Szenarien (vielleicht gerade den detektivischen One-Shots) könnte ich mir als Spieler vorstellen, daß ich neugierigerweise wissen will, was denn wirklich der HINTERGRUND gewesen ist, aufgrund dessen die Dinge passiert sind. - Aber: ich will NIE wissen, was ich hätte spielen/entscheiden/handeln sollen, denn dann hätte ich mir auch ein Buch kaufen können, wenn meine Handlungen bzw. die Handlungen meines SCs minderwertiger sein sollen, als das "vor-gerailroadet" Zeug im Szenario.
Apocalypse schrieb:
Aber wie mach ich das in ner Kampagne? Ich möchte sie einerseit s an meinen Hintergründigen Ideen teilhaben lassen, andererseits erscheint es mir wie Fuddeln, dass sie am Schluss was erfahren, was die Chars einfach verpennt haben.
Wenn Du Deinen Charakteren das so mitteilst, daß ihre Charaktere etwas "verpennt" haben, dann ist das Scheiße.
Wenn Du eine Kampagne spielst, in der die Charaktere bestimmte Fakten erfahren sollen (nicht etwa bestimmte Fakten schaffen müssen - das ist eine Zwangshandlung, übelstes Railroading, die Niederungen der Höllen der Geschichtenerzähler (tm)), dann solltest Du überlegen, ob Du einen "single point of failure" in Deiner Kampagne hast.
Hast Du eine Aktion entdeckt, die die Spielercharaktere ausführen müssen, ansonsten die ganze Kampagne ächzend zu einem nie mehr in Fahrt zu bringenden Halt kommt, dann solltest Du Dir überlegen, wie Du Alternativwege zu diesem einzelnen, "kampagnenkritischen" Punkt einbaust.
Aber das ist normales Kampagnen-Design.
Und wenn sie ein Fakt, daß sie eigentlich möglichst bald erfahren sollten, eben nicht erfahren haben, dann hat ja eine Kampagne im Gegensatz zu einem One-Shot noch genug Zeit, dieses Fakt anderweitig zugänglich zu machen, vorrausgesetzt es handelt sich eben nicht um einen "single point of failure" in der Kampagne.
Ich habe z.B. anfangs gedacht, daß die sehr linear "gescriptete" Kampagne Evernight für Savage Worlds eine simple, geradlinige Sache ohne viele Ecken und Kanten und ohne viel Arbeit für mich ist. - Doch ich hätte kaum mehr daneben liegen können. Meine Spieler haben mit dieser Kampagne etwas gemacht, daß immer noch Evernight ist, aber so dermaßen cool, daß ich begeisterter bin, als ich es je gewesen wäre, wenn wir diese Kampagne "by the book" gespielt hätten.
Gerade ein Spielleiter hat enorme Freiheiten im Umgang mit Szenarien/Kampagnen-Ideen (fremden und - vor allem - seinen eigenen). Man darf nur nicht zu selbstverliebt in die eigene Genialität sein und meinen, die eigenen, selbstausgedachten Dinge wären interessanter als das, was die Spieler daraus machen.