Rezension Grimms Manga 2 [B!-Rezi]

Little Indian #5

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Grimms Manga Band 2


In Grimms Manga 2 interpretiert die japanische Autorin und Zeichnerin Kei Ishiyama vier Märchen der Gebrüder Grimm neu:

Schneewittchen
Als der Feen-Zwerg Licht, der mit seinen Brüdern abgeschieden von den Menschen – dafür aber im Einklang mit der Natur – im Wald lebt, eines Tages nach hause kommt, erleidet er einen Riesenschreck. In seinem Bettchen liegt ein ihm völlig fremdes Wesen: ein Mensch. Die nette junge Dame stellt sich als Schneewittchen vor, zieht bei den Feen-Zwergen ein und erobert im Handumdrehen Lichts Herz. Alles könnte so schön sein, wenn nicht eines Tages eine alte Frau mit einem Korb voller Äpfel vor der Tür stehen würde…

Der gestiefelte Kater
Als das Erbe des verstorbenen Müllers verteilt wird, erhält dessen jüngster Sohn Hans nur den faulen Kater Karl. Was allerdings nur Hans weiß: Karl ist kein gewöhnlicher, sondern ein Feen-Kater und deshalb in der Lage, menschliche (oder zumindest menschenähnliche) Gestalt anzunehmen. Und um nicht in die Verlegenheit zu kommen, für sein eigenes Essen arbeiten zu müssen, aber auch um seinem „Herrchen“ Hans ein besseres Leben zu ermöglichen, gibt Karl beim König vor, dass Hans ein Graf namens Aaron sei, um diesem so eine Stellung am Hof oder sogar die Hand der Prinzessin zu verschaffen. Allerdings versäumt es Karl deshalb, dem Ungeheuer, das die Gegend beherrscht, die geforderten Abgaben abzuliefern. Und das kann natürlich nicht ewig gut gehen…

Der Froschkönig
Beim Spielen trifft Prinz Matthias auf einen Frosch, bei dem es sich eigentlich um die Prinzessin Elisabeth handelt, die ein alter Familienfluch in eine Amphibie verwandelt hat. Für Elisabeth ist Matthias vielleicht die letzte Chance, wieder menschliche Gestalt annehmen zu können. Dafür müsste dieser ihr aber vor dem Thron ihres Vaters sagen, dass er sie liebt. Aber da gibt es noch diverse kleine Haken…

Das singende, springende Löweneckerchen
Dass Katharina ihren Vater darum bittet, ihr von einer Reise ein Löweneckerchen (einen Singvogel) mitzubringen, führt dazu, dass dieser von einem sprechenden Löwen gefangen genommen wird. Damit ihr Vater wieder gehen darf, begibt sich Katharina in die Gewalt des Löwen, erfährt jedoch bald, dass es sich bei diesem um Lukas, den Prinzen des Sonnenkönigreiches, handelt. Die ewige Fehde des Reiches seiner Mutter mit dem Mondkönigreich hat dazu geführt, dass ein Fluch Lukas und sein Gefolge tagsüber die Gestalt von Tieren annehmen lässt. Katharina verliebt sich in den stattlichen Prinzen und bleibt bei ihm. Als Katharina und Lukas Jahre später die Hochzeit von Katharinas Schwester besuchen, wird Lukas von der Prinzessin des Mondkönigreiches, die derselbe Fluch in einen Drachen verwandelt hat, entführt. Nun muss Katharina die verfeindeten Reiche versöhnen, um die Flüche zu brechen. Dabei erhält sie unerwartete Hilfe…

Eine Neuinterpretation klassischer Geschichten ist stets eine Chance, Altbekanntes in neuem Licht darstellen zu können. Und Kei Ishiyama bemüht sich wirklich, jedem der altbekannten Märchen (wobei Das singende, springenden Löweneckerchen vielen eher in leicht abgewandelter Version als Die Schöne und das Biest bekannt sein dürfte) neue Facetten abzugewinnen. So wird Schneewittchen aus der Sicht eines der Zwerge erzählt, Der gestiefelte Kater ist eine Art Werkatze, in Froschkönig sind die Geschlechterrollen vertauscht (statt einem freundlichen Froschkönig und einer hochnäsigen Prinzessin gibt es einen netten Prinzen und eine zickige Froschprinzessin) und Das singende, springende Löweneckerchen wird um die Geschichte zweier rivalisierender Reiche ergänzt, die miteinander aus ziemlich banalen Gründen seit jeher im Clinch liegen.
Das sind auch alles ganz nette Ideen (vor allem die „Zwergenperspektive“ in Schneewittchen verschafft einige interessante neue Erkenntnisse) und für den Durchschnitts-Japaner haben europäischen Märchengeschichten sicher auch eine gewisse interessante Exotik. Aber für jemanden, der – was für die meisten der deutschsprachigen Leser gelten dürfte – mit den entsprechenden Geschichten aufgewachsen ist und diese immer wieder und in vielfacher Form (als Buch, Hörspiel, Film usw.) konsumiert hat, ist das alles doch ein bisschen zu wenig des Neuen um die Faszination, die diese Geschichten im Kindesalter ausgeübt haben, noch einmal aufleben zu lassen.
Vielleicht hätte man den Geschichten auch etwas mehr Platz einräumen sollen. Sie wirken doch sehr episodenhaft und gerade bei den Zweiteilern Der gestiefelte Kater und Das singende, springende Löweneckerchen ist der „Bruch“ nach dem jeweils ersten Kapitel (beide weisen an entsprechender Stelle einen Cliffhanger auf) überdeutlich. Dies ist wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass die Geschichten in Grimms Manga 2 ursprünglich als Fortsetzungsgeschichten in einer japanischen Zeitschrift erschienen, wirkt jetzt in Buchform aber eher störend.
Schneewittchen gewinnt durch die Erzählung aus Sicht des (Feen-)Zwergs. Allerdings verliebt sich dieser so Hals über Kopf und grundlos in Schneewittchen (okay, niedlich ist sie schon), dass seine Zuneigung kaum nachvollziehbar ist. Interessant wird die Geschichte natürlich dadurch, dass der Leser – im Gegensatz zum Erzähler – den weiteren Verlauf des Märchens kennt. Allerdings wird das Ende viel zu sehr in die Länge gezogen (wenn auch mit einem netten Crossover zu Dornröschen) und ist zu tränendrüsig.
Während Schneewittchen Probleme mit der Erzählgeschwindigkeit hat, fehlt Der gestiefelte Kater einfach ein Schwerpunkt. Eine ziemlich lange (und langweilige) Vorgeschichte schlägt unerwartet in einen rapiden Action-Part um, dann wird’s wieder langatmig bis zum Höhepunkt und Schluss. Auch ist mal Kater Karl die Hauptfigur, dann wieder sein Herrchen Hans. Auf Elemente wie das Ungeheuer wird erst nur ganz am Rande eingegangen, dann schieben sich diese völlig unvermittelt in den Vordergrund. Auch auf die Kräfte Karls und die Gefahren bei deren Anwendung, auf die insbesondere Karl selbst immer wieder hinweist, wird nur unzureichend eingegangen. Nett ist allerdings am Schluss dann doch die Parallele zwischen Karl und dem „Ungeheuer“, die dem Märchen (trotz Happy-End) eine fast schon düstere Schlussnote verleiht.
Die in einen Frosch verwandelte Prinzessin Elisabeth in Froschkönig ist dann doch etwas zu launenhaft und spitzzüngig, um echt Sympathien hervorzurufen – oder soll das etwa typisch weiblich oder prinzessinnenhaft sein? Deswegen ist auch die Engelsgeduld nur schwer zu verstehen, mit der Prinz Matthias ihre Launen erträgt. Ist er wirklich so ein lieber Mensch oder ist er – was die Geschichte gelegentlich zart andeutet – einfach ein bisschen träge, wenn nicht sogar dumm? Oder ist es gar ganz falsch, in einem Märchen nach „realistischen“ Charakterzügen zu suchen?
Das singende, springende Löweneckerchen erzählt in seinen zwei Kapiteln eigentlich auch zwei selbstständige Geschichten: Zunächst wie Katharina und Lukas zusammenkommen und es trotz des auf ihm lastenden Fluches schaffen, eine glückliche Beziehung zu führen. Dann der Versuch Katharinas, den Fluch nun doch zu brechen. Dabei wirkt vor allem der zweite Teil etwas unausgegoren, so als sollte die klassische Fantasy-Geschichte um zwei streitende Königreiche mit Gewalt mit eingewoben werden.
Grafisch ist Grimms Manga 2 vor allem eines: zuckersüß. Die Feen-Zwerge, der gestiefelte Kater, die Froschprinzessin und ihr Kaulquappen-Begleiter, ja sogar der Drache sind alle von Ishiyama so niedlich gezeichnet, dass der geneigte Leser im Zusammenhang mit den ebenfalls „süßen“ Geschichten unweigerlich nach einer Insulin-Spritze greift. Andererseits wird den weiblichen Lesern auch einiges an „Fan-Service“ geboten, da nämlich die attraktiven männlichen Figuren (vor allem Hans, Karl und Lukas) gern mal ihre Oberbekleidung ablegen und sich „oben ohne“ zeigen. Ansonsten ist der Zeichenstil aller vier Geschichten sehr ähnlich (es ist ja auch immer dieselbe Zeichnerin), bewegt sich aber immerhin in der Manga-Oberklasse. Neben detailreichen Hintergünden und Figuren und einem effektvollen Einsatz dunkler Schattierungen in den unheimlicheren Szenen fällt insbesondere die individuelle Gliederung der einzelnen Seiten positiv auf, bei denen vor allem in den rasanteren Szenen die Panels sehr schön dynamisch angeordnet sind.

Dass Kei Ishiyama viel Liebe und Arbeit in ihren Manga gesteckt hat, das merkt man dem Buch an. Allerdings merkt man auch, dass sie schriftstellerisch erhebliche Schwächen bei der Charakterzeichnung und der Wahl des Erzähltempos hat. Vielleicht sind aber auch Märchen als Vorlage für „moderne“ Versionen nur bedingt geeignet.
Unklar ist auch, wen Tokyopop mit dieser Veröffentlichung ansprechen will. Für kleinere Kinder (die eigentliche Zielgruppe von Märchen) sind die Geschichten in Grimms Manga wohl etwas zu textlastig, älteren Leser hingegen bieten die klaren gut-böse Schemata und die hinlänglich bekannten Stories wenig Lesereiz. Lediglich weibliche Teenager mögen sich von den romantischen Aspekten der Geschichten, die hier sehr in den Vordergrund gerückt werden, den netten Zeichnungen und den attraktiven männlichen Hauptfiguren verstärkt angezogen fühlen. Insgesamt ein Manga, den niemand wirklich braucht.

Nutzen für Rollenspieler: Gering
Sicherlich hat die eine oder andere klassische Idee aus einem Märchen schon Pate gestanden für ein Rollenspielabenteuer. Grimms Manga 2 bietet hier aber wenig Anknüpfungspunkte, die über das hinausgehen würden, was man aus den Vorlagen der Gebrüder Grimm – die ich hier einfach mal als bekannt voraussetze – nicht auch ziehen könnte. Insbesondere die Mission, einen Fluch zu brechen, um die es hier in eigentlich jeder Geschichte letztlich geht, ist ja in Fantasy-Abenteuern Standard. Gut, die Idee, dass der Feen-Kater Karl Angst hat, seine übernatürlichen Kräfte zu benutzen, weil er sich hierdurch immer mehr verändern und zum Monster werden würde, dürfte einem Vampire-Spieler angenehm bekannt vorkommen und der Krieg zwischen dem Sonnen- und Mondkönigreich über merkwürdige religiöse Differenzen ist als Hintergrund für ein Abenteuer vielleicht reizvoll, wirklich rollenspieltechnisch „ausschlachten“ lässt sich dieser Band aber nicht.Den Artikel im Blog lesen
 
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