Flucht nach vorn

Salomé

stupid fucking rope
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15. Juli 2003
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„Pam. Was soll das heissen... du gehst? Was... ich meine du kannst doch nicht. Aber ich...“
Sie hatte aufgelegt, einfach so. Sie hatte das Telefongespräch mindestens ebenso schnell wie ihre Ehe beendet. Musste er jetzt eigentlich schon von ihr als Ex-Frau denken? Oder durfte er noch...
Das Kindergeschrei riss ihn aus seinen Gedanken und hastig fuhr Joan empor.
„Lee? Was ist los?“ Rief er bereits auf dem Weg nach draussen und entdeckte seinen Knirps in der Garagenauffahrt, als er die Tür aufriss. Llewellyen, der grade noch mit Papa Fahrrad fahren geübt hatte – ganz ohne Stützräder – hatte scheinbar noch einen Versuch auf eigene Faust unternommen... und sich prompt beim Sturz die Knie blutig geschlagen. Schluchzend rappelte er sich auf, um von Papa rasch in die Arme gezogen zu werden. „Nicht weinen, Kurzer. Bis zur Hochzeit ist alles wieder heile. Komm, wir gehen rein und machen ein Pflaster drauf... und dann gibt es erst mal ein Eis für uns beide.“
Die Tür schlug hinter den Beiden zu und Joan fuhr mit einem leisen Keuchen im Bett empor.
Wieder einmal dieser Traum... er liess ihn einfach nicht los. Seufzend angelte er nach dem Wasserglas neben seinem Bett und nahm sich einen Schluck.
Die gleiche Szenerie, Nacht für Nacht... und jede Nacht suchte er nach einer neuen Ausrede, einem neuen Ausweg, um nicht akzeptieren zu müssen, was damals geschehen war.
Der Anruf, den er erhalten hatte war nicht von seiner Frau gekommen, die sich von ihm trennen wollte, nicht von einem Liebhaber, wie er es auch schon so oft geträumt hatte oder von etwas in der Art...
Damals hatte ihn sein alter Freund und Kollege Dennis aus dem Krankenhaus angerufen, um ihm die Nachricht zu überbringen, dass grade drei Krankentransporte mit Schwerverletzten eingetroffen war. Joan hatte sich schon krampfhaft überlegt, ob er der Nachbarin schon wieder einmal den Jungen aufs Auge drücken könnte, um schnell zum Dienst zu fahren. Als Arzt im Praktikum konnte man es sich eben nicht erlauben einen Zwischendienst abzulehnen, wenn man seinen Job behalten wollte und ganz besonders nicht, wenn das Krankenhaus nur gut Minuten zu Fuss entfernt war. Aber Dennis hatte ihn nicht angerufen, um ihn zum Dienst zu bestellen. Hätte er es mal getan, Joan wäre um einiges glücklicher gewesen. Aber nein, stattdessen sprach Dennis ihm sogar für die nächsten zwei, drei Wochen eine Beurlaubung aus, bis er über den Tod seiner Frau hinweg wäre...
Vielleicht traf es auf andere Menschen zu, dass Zeit alle Wunden heilte. Joan konnte es von sich einfach nicht behaupten. Oder waren zwei Jahre etwa noch immer nicht genug Zeit, um zu vergessen, zu verzeihen und vor allem endlich zu akzeptieren?
„Komm kuscheln, Papa...“ brummelte es leise neben ihm im Bett und mit einem kurzen Blick zur Seite seufzte Joan auf. Was würde er nur ohne dieses Kind tun?
Liebevoll zog er Llewellyen in seine Arme, als er sich wieder ins Bett zurück sinken liess und bettete das Gesicht in seinem blonden Haarschopf, um tonlos wieder einmal diese tagsüber aufgesparten Tränen zu vergiessen.

„Hast du deine Brotdose? Und deine Trinkflasche? Heute ist Mittwoch, wo sind deine Turnsachen, Lee?“ „Schon im Auto, Papaaaa!“ Grinsend reckte der Blondschopf den Kopf empor, um einen Kuss von Papa einzufordern. Lächelnd hob Joan seinen Sohn empor und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf den Mund. „Du hast dich noch nicht rasiert Papa.“ Erklärte Llewellyen kichernd. „Jaja, schimpf du nur mit deinem alten Herrn. Danielle holt dich heute vom Kindergarten ab und dann gehst du mit zu Tracy zum Spielen.“ „Aber Tracy ist doof! Die will immer nur mit Puppen spielen. Kann ich nicht nach Hause kommen, Papa?“ „Ich muss heute zum Vorstellungsgespräch, Lee. Das hab ich dir doch gesagt.“ „Aber ich kann doch mitkommen! Ich bin auch lieb. Und ausserdem will ich die Feuerwehrautos angucken.“
Joan seufzte leise auf. Autorität, wo bist du geblieben? „Pass auf, wenn ich den Job kriege nehm ich dich ganz oft mit, okay?“ Damit setzte er den Kleinen ab und drückte ihm noch einen Kuss auf die Stirn, ehe er ihn zu seiner Nachbarin Danielle ins Auto verfrachtete, die ihn strahlend begrüsste.

„Mum. Ich hab doch schon alles versucht. Ich weiss, dass du ihn nicht gerne... aber es ist... Mum, lass mich doch mal ausreden. Ja, ich weiss, ich weiss... jaaaa... aber es ist doch nur für ein paar Monate. Bis ich die Grundausbilodung hinter mir habe. Danach kann ich meinen Dienst besser einteilen und man wird auch Rücksicht darauf nehmen, dass ich alleinerziehender... MUM, wie stellst du dir das vor? Nein, als Sanitäter muss ich viel weniger unterwegs sein, als wenn ich wieder... Verdammt, es ist doch nicht so, dass ich nicht wollte, Mum. Aber ich kann mein Medizinstudium nicht zu Ende bringen mit Lee. Als Sanitäter brauch ich mit meinem Vorwissen nur 6 Monate und mach dann doch fast das gleiche, wie als... Mum? MUM?“
Warum legten Frauen eigentlich immer mitten im Telefongespräch auf? Wie er das hasste. Und warum hatte seine Mutter IHN jemals bekommen, so wie sie Kinder verabscheute? Sie wollte ihren Enkel ja nicht einziges mal im Jahr sehen.
Brummelnd schob er die Tür zur Küche auf und schlug gedanklich die Hände über dem Kopf zusammen. „Papa, ich hab Abendbrot gemacht“, erklärte Lee stolz wie Oscar und hielt Papa das Sandwich mit Erdnussbutter entgegen. Die Erdnussbutter allerdings erstreckte sich auch über seinen Ärmel, bis zum Ellenbogen runter, ganz zu schweigen davon, dass er sich scheinbar auch ein Brot vor den Latz hatte fallen lassen. „Du wirst ja noch zum Hausmann.“ Einfach mit Humor nehmen, was anderes blieb ihm ja eh nicht übrig. „Und danach geht’s ab in die Badewanne und ins Bett.“ „Gucken wir noch Fotos?“ Bettelte der Kleine mit Knopfaugen und entlockte Papa einen leisen Seufzer. „Okay, okay...“


Wie konnte der junge Mann eigentlich so viel Energie in sich haben, nachdem er den ganzen Tag nur auf Achse gewesen war. Kindergarten, Geburtstagsparty, Schwimmen gehen... Joan war auf jeden Fall toter als tot und war beim Fotos anschauen beinahe eingeschlafen, während Lee noch mindestens eine Stunde das Bett als Trampolin missbraucht hatte, ehe er auch nur auf die Idee gekommen war mal auf Papa zu hören und sich hinzulegen. Was ja nicht hiess, dass er etwa schon schlafen würde. Nein, stattdessen sang er sich leise ein Schlaflied vor.
Seltsam... dieses Lied hatte Joan nie für ihn gesungen und er hatte nicht erwartet, dass Lee es noch kennen würde. Er war noch so klein gewesen, als Pam es gesungen hatte...
„Joan... Hey... wach auf.“ Träge drehte er den Kopf auf die Seite und brummelte. Er war eingeschlafen und hatte es nicht mal bewegt. Wie steif sein Nacken war, daran wollte er lieber erst gar nicht denken. Sanft fuhren Fingersitzen über seine Wange und mit einem wohligen Lächeln liess er die Augen geschlossen, um noch einen Moment länger in diesem zauberhaftem Traum von Pam verweilen zu können. „Du hättest doch nicht auf mich warten müssen...“ Erst war es nur ihr Atem, der nach diesen Worten auf seine Lippen traf, ehe seidig weiche Lippen langsam auf seine legten und darüber strichen. Ausgehungert und trotzdem unendlich vorsichtig, um diesen Traum nicht zu schnell abreissen zu lassen, erwiederte er den Kuss und schob seine Zungenspitze langsam an ihre. Er wirkte erschrocken, als er mitten in jener Bewegung inne hielt. Er hatte ihre Zunge berühren können... das war in dieser Art träumen noch nie passiert, nicht mal direkt nach ihrem Tod. Und grade in letzter Zeit waren sie mehr und mehr verblasst, meist nach einem geflüsterten Wort oder der ersten Berührung. Das hier war... realer.
Und etwas störte. Sie roch nicht nach Orchideen und Sommer, wie es Pam getan hatte, sondern zu süss, nach frisch gebackenem Kuchen und... Kindergeburtstag?
Erschrocken riss Joan die Augen auf, um Danielle an den Schultern zu fassen und von sich weg zu drücken. Sie hatten noch einen Wein trinken wollen, nein falsch, Danielle hatte noch einen Wein mit ihm trinken wollen. „Ich... Danielle. Du... es tut mir leid, aber... ich dachte...“ stammelte er ziemlich hilflos daher und fuhr sich durch die Haare. Nein, das Chaos war noch längst nicht perfekt genug, als Danielle sich wieder an ihn schmiegte und etwas von ’wir sind doch beide erwachsen...und alleinerziehend.’ faselte, denn in eben jenem Moment tauchte Lee am Treppenabsatz auf und sich schluchzend die Augen rieb. „Papa.“
Ohne auch nur einen weiteren Gedanken an Danielle und das Geschehen zu verschwenden, stürzte er die Treppe empor und riss Lee in seine Arme. „Was ist los, mein Grosser?“ „Ich hab Mami gesehen. Bei dir und Danielle im Wohnzimmer. Sie hat geweint.“
Danielle? Woher hatte er das gewusst? Er sank schweigend auf die Knie und bettete Lee ganz in seinen Armen.
Es wird Zeit, Joan. Du musst endlich damit abschliessen. Du machst deinen Sohn noch verrückt. Immerhin ein Punkt, in dem Danielle vollkommen recht hatte.
Während Lee sich wieder unruhig im Bett hin und her wühlte, war Joan bereits damit beschäftigt die ersten Kartons einzupacken.
Sie mussten aus diesem Haus raus, in dem jeder Winkel an Pam erinnerte. Aus diesem Haus, aus dieser Stadt. So weit weg, wie es nur ging, weg von allen Orten, an denen er jemals mit Pam gewesen war.
Wohin würde ihn diese Flucht treiben? Europa, er wollte auf jeden Fall in Europa bleiben, am Besten hier auf der Insel. Lee sollte nicht auch noch kurz vor Schulbeginn eine neue Sprache lernen müssen, so viel wollte er ihm nicht zumuten, wenn er ihm schon alle Freunde wegnahm.
Als er so seinen Gedanken nachhing und die Bilderrahmen fein säuberlich in Zeitungspapier einschlug, wehte ein laues Lüftchen eine der Seite vom Tisch. Seltsam, es stand doch gar kein Fenster offen...
Joan hob schwer seufzend die Seite auf und sein Blick fiel zielsicher, als hätte das Schicksal seinen Blick gelenkt, auf eine der Anzeigen.
'Hotel Desire sucht einen engagierten Mitarbeiter.'
Ein Job im Hotel?
Irland?
Da war er definitiv niemals gewesen mit Pam...
 
Recht düster. Aber qualitativ hochwertig. Besonders die Einschachtelung in Kombination mit den scharfen Schnitten wirkt stark. Hut ab!
 
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