Rezension Engel - Himmel über Aachen (II)

nathaniel

Ghul
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Himmel über Aachen (II)


Engel Kampagnenband


Anfang des Jahrtausends war die Welt für Rollenspieler noch in Ordnung. Der Verlag Feder und Schwert, der mit der deutschen Lizenz für die World of Darkness ein Vermögen verdient haben muss, brachte unter großem Tamtam das multimediale Erzählrollenspiel Engel auf den Markt. Tatsächlich machten Setting, Artwork, Comic, Romane und Soundtrack das Spiel so attraktiv, dass es sogar in Amerika veröffentlicht wurde. Leider blieb den Amerikanern der Handlungsort Europa etwa so fremd wie Feder und Schwert die Fans ihres Spiels. So blieben die eigentlichen Geheimnisse der Welt bis zuletzt unergründbar. Ob Fegefeuer, Traumsaat, Pontifex oder d20-System, die Entwickler selbst schienen keine Antwort auf diese Fragen zu kennen. Statt neuer Veröffentlichungen mit überraschenden Antworten, spannender Umbrüche oder einer Zuspitzung des Konflikts, gab es schlechten Fan-Support, Streichung von Veröffentlichungen und statt dessen Supplements für Live-Rollenspiele. Insgesamt kann man sagen, versank das gesamte Projekt schließlich sang und klanglos in der Versenkung.

Das ganze Projekt?!

Nein! Seit 2002 erschien in dem bekanntlich sehr empfehlenswerten Rollenspielmagazin Mephisto über mehrere Ausgaben verteilt eine Engel-Kampagne vor dem Hintergrund der Diadochenstadt Aachen, mit einer Stadtbeschreibung, spannender Geschichte und einem DinA2 großen vollfarbigen Plan der Stadt. Obwohl diese Ausgaben des Magazins längst vergriffen waren, riss die Nachfrage von Engel-Spielern über die Jahre trotz oben genannter Gründe einfach nicht ab. Und so entschlossen sich die Herausgeber, einfach ein Buch aus der Kampagne zu machen. Und als Engel-Spieler kann man dazu nur eines sagen: Halleluja!

Nun ist es erschienen: Himmel über Aachen, ein 98 Seiten starkes Hardcoverbuch mit einem wunderschönen, von Tobias Mannewitz gestalteten Einband. Auf der Innenseite des Einbands befindet sich der farbige Stadtplan von Aachen (immerhin noch in DinA3). Der Rest des Buches ist schwarz-weiß, doch nicht weniger schön illustriert und gesetzt. Das Buch enthält die komplette Kampagne von Björn Lippold, an den offiziellen Hintergrund angepasst und stark erweitert, zu einem überaus fairen Preis.

Worum es geht? Nach einem Traumsaatangriff etwa 40 Jahre vor Spielbeginn fiel die Stadt Aachen in die Hände eines Schrottbarons. Seitdem hat die Angelitische Kirche ein Interesse daran, die Stadt wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen, ist jedoch militärisch an anderen Stellen Europas gebunden. Also wurde am Rande des Europakonzils 2655 ein Plan erarbeitet, die Stadt durch den Einsatz angelitischer Agenten zurückzuerobern, da die meisten Stadtbewohner der Kirche noch immer wohlgesonnen oder zumindest neutral gegenüberstehen. Die Spieler schlüpfen dabei nicht nur in ihre Rollen als Engel, sondern auch als eben diese Agenten in die Rolle ganz normaler Menschen, mit dem Vorteil unerkannt als Späher in Aachen leben zu können, aber auch mit all den Nachteilen, die fehlende übernatürliche Kräfte so haben können...

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Die ersten beiden beschreiben die Stadt Aachen sehr stimmungsvoll in Form von Berichten der Späher oder durch Tagebücher der Stadtbewohner aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und für den Erzähler werden anschließend die einzelnen Fraktionen der Diadochenstadt genauer beschrieben und erläutert. Gerade im Vergleich zu offiziellen Engelpublikationen fällt dabei die Klarheit auf, die entstehen kann, wenn man sich als Erzähler nicht alle wichtigen Informationen aus einem unübersichtlichen Konvolut an Daten und Beschreibungen heraussuchen muss. So schafft es dieses erste Drittel des Buches ein lebendiges Bild der Stadt vor Augen entstehen zu lassen, die das übliche Klischee einer dunklen, verkommenen Diadochenstadt hinterfragt und gerade den gelähmten Schrottbaron als einen mit Bedacht handelnden Menschen darstellt, dessen Schicksal berührt.

Kapitel drei bis sieben enthalten dann auf den nächsten 50 Seiten den Inhalt der Kampagne, in der die Spieler sowohl als Engel als auch als angelitische Spione auf den unterschiedlichsten Wegen in das Schicksal der Stadt Aachen eingreifen können. Die einzelnen Kapitel sind ausreichend ausgearbeitet, lassen aber noch genug Spielraum für eigene Ideen und Möglichkeiten und bieten genug Material für einige Wochen, wenn nicht gar Monate Spielzeit, in welcher die Spieler manches Mal gekonnt in moralische Dilemmata geführt werden, die sie ganz schön ins Schwitzen bringen können. Doch trotz der im Finale epische Größe annehmenden Geschichte schafft es die Kampagne glaubhaft das Wirken der Spieler als ausschlaggebend für die Ereignisse darzustellen.

Positiv abgerundet wird das Gesamtbild schließlich durch einen Anhang mit neuen Traumsaatkreaturen und Waffen.

Als Halleluja-singender Engelspieler kann man an dieser Stelle ein wenig wehmütig werden. Wenn man Himmel über Aachen mit den offiziellen Veröffentlichungen vergleicht, knüpft das Buch qualitativ an den begeisternden Start des Engel-Universums vor 10 Jahren an. Vor allem im Vergleich zu den jüngst als Abschluss des Settings erschienenen Engel-Romanen, in denen Engel und ihre Scharen im Grunde gar keine Rolle mehr spielen und daher jede Verwendung dieser Apokalypse im Spiel die Engel auf eine reine Zuschauerperspektive degradieren würde, zeigt Björn Lippolds Kampagne eindrucksvoll, wie es möglich ist, Engel, die als reine Befehlsempfänger in der Hierarchie der Kirche fungieren, so in eine große Geschichte einzubinden, dass sie tatsächlich etwas bewegen können.

Dafür sollte es in jedem Rollenspielsystem und auf jeder Skala die volle Punktzahl geben. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieses Fanprodukt seine Käufer und - auf die ein oder andere Weise - auch eine Fortsetzung finden wird.

Halleluja!
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