Endstation [Graue Wirklichkeit 5]

Freako

Der Kriegerpoet
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4. April 2004
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Der Zug kam mit einem Rucken zum Stillstand, doch Steve bemerkte es kaum. Er war tief in Gedanken versunken und nahm nicht einmal mehr die Musik wahr, die immer noch aus seinen Kopfhörern drang. Erst als sich eine der Türen quietschend öffnete und auf halber Strecke steckenblieb hob er den Kopf und sah nach draußen. Es war stockdunkel- der Bahnhof war nicht beleuchtet.

Steve griff in seine Tasche und schaltete den kleinen Walkman aus. Der Regen war in der Zwischenzeit noch stärker geworden. Das prasselnde Geräusch, mit dem er auf das Wellblechdach des Bahnsteigs oder auf den Zug trommelte hätte Steve normalerweise beruhigt- er liebte den Regen. Doch jetzt fühlte er... nichts.

Bis auf den Regen war es vollkommen still und Steve lauschte in sich hinein. Nichts, bis auf den Schmerz. Doch auch dieser war mit einem Male nicht mehr so stechend sondern dumpf. Trotzdem würde er sie nicht so schnell überwinden.

Er stand langsam auf und ging in Richtung der einzigen Tür, die sich noch öffnete. Sein Weg führte ihn an der toten, alten Frau vorbei. Er zögerte einen Augenblick, doch dann beugte er sich zu ihr herunter. Ihr schmaler, vom Alter gezeichneter Körper in den schmuddeligen Klamotten saß vollkommen still nach vorn gebeugt da und rührte sich nicht. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, sie zu durchsuchen, ob er nicht etwas Geld finden würde oder etwas, das ihm weiterhelfen könnte. Wenn er es nicht tat, würde es jemand anders tun.
Doch dann schüttelte er nur den Kopf. Es war ohnehin gleich.

Was mochte es wohl gewesen sein, was die alte Frau in ihrem letzten Augenblick gesehen hatte? Ihre schwieligen Hände, die sich um ihr sich aufbäumendes Herz krampften? Vielleicht ihre Schuhspitzen? Oder war er selbst, Steve, der letzte Anblick ihres Lebens gewesen? Was hatten ihre grünen Augen gesehen?

Was würde das letzte sein, was er sehen würde? Viel Auswahl blieb wohl nicht... vielleicht der Lauf einer Pistole, sein eigenes Blut oder etwas ähnliches. Was sollte hier im Ghetto aus ihm werden... nur die Starken überlebten hier, und auch sie kamen aus diesem Sumpf nicht hinaus. Und seine Stärke hatte er in dieser Nacht verloren.

Er drehte sich um und wollte den Zug verlassen, als sein Blick auf einen kleinen, zierlichen schriftzug fiel. Ein zweiter war daneben, den er als seinen eigenen erkannte... 'Clash' stand dort. Sein Künstlername- er wusste nicht mehr, wie er darauf gekommen war. Er hatte unzählige dieser Schriftzüge gemalt, in diesem Zug, an Wänden, Toilettenspiegeln und vielen anderen Orten. Doch was seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte war nicht sein eigener Schriftzug, sondern der daneben. Die Züge, die mit grünem Filzstift geschrieben waren, wirkten unsicher und mit wenig Übung gezeichnet, und doch waren sie für Steve einmal schöner gewesen als alle anderen, die er je gesehen hatte. Jetzt spürte er nur noch Schmerz, als er das Wort las.

"Bobo".
 
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