Rezension Elfen Lied 1 [B!-Rezi]

Little Indian #5

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Elfen Lied Band 1


Die junge Lucy ist eine Diclonius, ein menschlicher Mutant. Als solcher besitzt sie nicht nur ein paar niedlicher „Hörner“, sondern sie verfügt vor allem über telekinetische „Arme“, mit denen sie in einem Radius von zwei Metern mit großer Kraft auf ihre Umwelt einwirken kann. Da sie auf Reize äußerst aggressiv reagiert, wird sie in einer Hochsicherheitseinrichtung gefangen gehalten. Durch die Unachtsamkeit eines ihrer Wächter gelingt es ihr eines Tages zu fliehen, nicht jedoch ohne vorher ein erhebliches Blutbad angerichtet zu haben. Schwer verletzt und offensichtlich auch mit Gedächtnisstörungen wird sie nackt an einen Strand gespült, wo sie von dem Studenten Kota und seiner Cousine Yuka gefunden wird. Die beiden geben dem netten Mädchen mit den ungewöhnlichen Hörnern den Namen Nyu (das ist das einzige Wort, das sie ausspricht) und nehmen sie mit nach Hause.
Die Regierungsorganisation, deren Aufgabe es ist, die Diclonii zu erforschen, und vor allem deren Leiter Kurama, sind jedoch aufgrund der Flucht von Lucy/Nyu in heller Aufregung. Nicht nur deshalb, weil es einen erheblichen Prestigeverlust bedeutet, wenn man einen so wertvollen „Gast“ verliert. Man hatte außerdem die Hoffnung, durch Forschungen anhand dieses „Anschauungsobjekts“ neue Erkenntnisse zu gewinnen und die Befürchtung, das ein so gefährliches Wesen wie eine Diclonius, das unkontrolliert auf die Menschheit losgelassen wird, schlimmstenfalls zu deren Ausrottung führen kann. Deshalb ergreift Kurama Maßnahmen, um Lucy/Nyu wieder in seinen Gewahrsam zu bekommen. Nachdem ein schwer bewaffnetes Einsatzteam versagt hat, schickt Kurama eine zweite Diclonius los, um ihre „Schwester“ zu Vernunft zu bringen…

Vor allem die (auch auf deutsch erschienene) Anime- (also Trickfilm-) Version von Elfen Lied besitzt eine große Fangemeinde. Auf die Manga-Vorlage hingegen werden die meisten Fans – zumindest hierzulande – offensichtlich erst aufmerksam, nachdem sie den Anime gesehen haben. Da er jedoch die Geschichte deutlich detaillierter erzählt und auch weiter führt als die Filmversion, ist er wohl eine sinnvolle „Sekundärliteratur“ hierzu.

Das ist aber auch der einzige Grund, diesen Band zu lesen. Die Geschichte, die Lynn Okamoto hier erzählt, springt immer wieder zwischen zwei Extremen hin und her ohne sich wirklich für eines davon entscheiden zu können oder diese sinnvoll miteinander zu verbinden. Zum einen gibt es extrem blutige Szenen wenn Lucy aus der Forschungseinrichtung ausbricht oder sich gegen ihre Verfolger zur Wehr setzt. Dann wiederum gibt es eine romantische Dreieckskomödie um Nyu, Yuka und Kota. Die Stimmung der jeweiligen Abschnitte ist völlig unterschiedlich und die Übergänge sehr plötzlich – fast genauso plötzlich und unmotiviert wie die befreite Diclonius zwischen ihren zwei Persönlichkeiten (der kaltblütig-brutalen Lucy und der kindlich-naiven Nyu) wechselt.
Aber glaubhaft oder auch nur wirklich nachvollziehbar sind die Motive kaum einer der Figuren. Egal ob es sich um Yuka handelt, die – obwohl sie ihn seit Jahren nicht gesehen hat – immer noch in einer heftigen Schwärmerei für ihren Cousin Kota vergeht. Oder Kurama, der kaltblütig sowohl seine Sekretärin opfert (obwohl er offensichtlich mehr für sie empfindet als nur kollegiale Zuneigung) als auch seine Ziehtochter Nana auf eine besonders gefährliche Mission schickt, dann aber wiederum über die entsprechenden Verluste lamentiert. Auch die Nebenfiguren sind allenfalls kurios, sei es der übermotivierte Killer Bando, der mit fast schon kindlicher Freude auf seinen ersten Tötungsauftrag wartet oder die tolpatschige Sekretärin Kisaragi, die sich aus lauter Loyalität mal eben so erschießen lässt. Einzig Kota, der von der plötzlichen Entwicklung der Ereignisse völlig überrumpelt wird, ist so verwirrt wie man es erwarten kann.
Aber nicht nur die Charaktere lassen zu wünschen übrig. Auch die Handlung springt immer wieder von einem Ort zum anderen, Figuren wie etwa die scheinbar obdachlose Mayu tauchen auf, verschwinden dann wieder und tauchen wieder auf. Auch Handlungsstränge wie die Muschel, an der Kota zunächst so unheimlich hängt (sie ist das einzige Andenken an seine verstorbene Schwester) und Kotas plötzlich auftretende heftige Erkältung werden unvermittelt fallen gelassen. Schade eigentlich, denn die Einleitung ist nicht unspannend, gerade weil der Leser eine Zeit lang im Dunkeln gelassen wird hinsichtlich der Gefährlichkeit der maskierten Gefangenen und auch Tötungsszenen erst nur angedeutet und nicht in aller bluttriefenden Genauigkeit zur Schau gestellt werden. Auch gibt es einige Anzeichen dafür, dass Lucy/Nyu und Kota vielleicht doch in einer engeren Beziehung stehen als es zunächst den Anschein hat. Okamoto scheint sich also durchaus Gedanken über die „Backstory“ gemacht zu haben.
Für das Verständnis der Geschichte ist es nicht gerade hilfreich, dass zwei Kurzgeschichten des Autors, die allerdings mit der Story von Elfen Lied überhaupt nichts zu tun haben, einfach dazwischen geschoben werden. In der ersten davon geht es um einen jungen Mann, der aufgrund eines schweren Schicksalsschlages (er hatte acht ältere Schwestern) unfähig ist, Beziehungen zu Frauen aufzubauen. Als er eines Tages einen weiblichen menschlichen Klon trifft, der die Größe einer Barbiepuppe hat, eröffnet sich für ihn erstmalig die Chance für ein eigenes „kleines“ Glück. Die zweite widmet sich einer Spezialistin für Bombenentschärfungen und ihrem Partner, die eine Bombe in einem Atomkraftwerk entschärfen müssen. Warum diese Geschichten in den Band eingestreut wurden, bleibt unklar. Mit der Haupthandlung stehen sie jedenfalls in keinem ersichtlichen Zusammenhang.
Aber noch schlimmer als die unrealistischen Figuren oder die bruchstückhafte Handlung sind die Dialoge. Es ist schwer vorstellbar, dass die Menschen in Japan - oder sonst irgendwo auf der Welt - wirklich so sprechen. Ein paar Beispiele: Als sich die fliehende Diclonius hinter der Sekretärin Kisaragi verschanzt und ihrem Chef Kurama klar wird, dass er das Leben seiner Angestellten opfern muss, um die Flucht der gefährlichen Mutantin zu verhindern, sagt er „Ich muss Sie bitten, hier für uns zu sterben…“ Naja, Kisaragis Antwort ist auch nicht realistischer: „Wäre Ihnen das eine Hilfe, Chef?“ Oder wenn ein Mitglied einer Spezialeinheit, zu deren Aufgaben offensichtlich auch die Liquidation gefährlicher Personen gehört, kurz bevor ein Mädchen erschießt, dass er für eine Massenmörderin hält, sagt: „Verzeih mir… Bitte verfolge mich nicht aus dem Jenseits…“ Aber auch pseudointellektuelle Hohlphrasen wie „Das ungewöhnliche Umfeld von acht älteren Schwestern hat mich gegenüber Frauen völlig desillusioniert“ und „Sie ist die mitochondriale Eva, die vor 200.000 Jahren erschienen ist…“ wirken im Kontext der ansonsten nicht gerade anspruchsvollen Story einfach nur deplatziert.
Der im Rahmen der Lovestory um das erotisch-romantische Dreieck zwischen Nyu, Yuka und Kota immer wieder auftretende Slapstick-Humor ist in Japan offensichtlich sehr beliebt, hier aber eher lieblos umgesetzt. Sehr verstörend an der Geschichte ist jedoch die fast schon inzestuöse Beziehung zwischen den Cousins Yuka und Kota sowie die zahlreichen Nacktszenen und sexuellen Intimitäten zwischen den dreien, die optisch alle bestenfalls im Teenageralter zu sein scheinen.
Aber die Optik des Bandes ist insgesamt so eine Sache. Von Perspektiven oder anatomisch korrekten Proportionen scheint Okamoto noch nichts gehört zu haben. Besonders aber die Mimik der handelnden Personen ist sehr schlecht zu erkennen, was seine Ursache wahrscheinlich darin hat, dass viele Gesichter mehr skizzenhaft als mit wirklichen Details dargestellt werden – das macht es übrigens auch nicht immer einfach, die Charaktere zu untrscheiden. Die beiden enthaltenen Kurzgeschichten sind da schon ein ganzes Stück besser – sie stammen vielleicht aus einer späteren Schaffensphase des Zeichners.
Auch wenn Okamoto in einem offenen Brief an den Leser betont, dass es sich bei Elfen Lied um seinen ersten längeren Manga handelt und darum bittet, ein Auge zuzudrücken, ist das doch keine echte Entschuldigung für die Zeichnungen, die bestenfalls Amateurniveau haben.

Elfen Lied ist schlecht. So richtig schlecht. Nicht einfach nur so schlecht, dass einem das Geld Leid tut, das man für das Buch ausgegeben hat. Sondern so schlecht, dass man die Zeit bereut, die man aufgewendet hat, um es zu lesen. So schlecht, dass man um die Bäume trauert, die für die Herstellung des Papiers sterben mussten, auf dem es gedruckt wurde. Eben verdammt schlecht.
Wer auf blutiges Gemetzel und abgetrennte Gliedmaße steht, der sollte lieber zu Battle Royale (auch aus dem Hause Tokyopop) greifen – da sind nicht nur die Zeichnungen detaillierter, sondern es gibt auch eine spannende Geschichte und interessante Charaktere dazu. Wer entblößte Brüste, Panty-Shots, Slapstick-Humor und Teenager-Love-Stories sucht, der wird unter den in Deutschland veröffentlichten Mangas viel viel besseres finden als Elfen Lied (mein Tipp: Manga Love Story, in Deutschland erschienen bei Carlsen).
Wer aber für Elfen Lied Geld ausgibt, der gehört gepeitscht. Aber war sich nach dem Lesen dieser Rezension noch einen Band von Elfen Lied kauft, der lässt sich wahrscheinlich auch gerne peitschen…

Nutzen für Rollenspieler: Gering
Die Idee, dass eine Gruppe mehr oder weniger zufällig zusammen gewürfelter Charaktere einen Außenseiter vor einer übermächtigen Regierung beschützen muss, so wie es hier Yuka und Kota mit Lucy/Nyu tun, ist durchaus eine schöne Idee für eine (kurze) Kampagne. Und dass der Außenseiter ein Mutant mit übernatürlichen Kräften (und einer nicht unerheblichen Persönlichkeitsstörung) ist, macht diese Rolle vielleicht sogar noch reizvoller. Allerdings müsste bei einer entsprechenden Idee vorher mit den Spielern abgeklärt werden, dass einer der SCs (der Mutant) deutlich mächtiger sein wird als die anderen. Aber bei Elfen Lied selbst findet man nur sehr wenig inspirierendes Material, das die Vorbereitung entsprechender Abenteuer erleichtern würde. Die telekinetischen Fähigkeiten der Diclonious-Mutanten sind nicht unbedingt originell, die Story ist sehr abhängig von den spezifischen Figuren und auf die Maßnahmen der Regierung wäre ein durchschnittlich begabter Spielleiter auch von selbst gekommen.Den Artikel im Blog lesen
 
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