Ein Kind Sets

AGS

allein
#StandWithUkraine
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Vorbemerkung: Dies ist der zweite Teil einer Kurzgeschichte, die ich als "inTime" für den Vampircharakter meiner damaligen Freundin - und jetzigen Gattin - geschrieben habe, daher auch die direkte Anrede. Den Anfang habe ich noch nicht wieder gefunden, aber ich hoffe, man kann die Geschichte auch so genießen - AGS

1999 - Danach...
Du bemerkst es zunächst gar nicht, doch als Du ein Knarzen hörst, wie von einem Brett, bemerkst Du, daß du wieder wach - oder, besser gesagt, bei Bewußtsein bist. Es ändert eigentlich nichts - Du kannst nichts sehen und es gibt nichts zu hören. Doch jetzt, als Du dir deiner bewusst bist, bemerkst Du auch die alles betäubende Schwäche in deinen Gliedern. Und langsam brennt sich ein Gefühl des Schmerzes in deine Empfindungen. Ein dumpfer, stechender, leicht pulsierender Schmerz, der von deiner Körpermitte ausgeht. Von dort, wo in deinen letzten Erinnerungsfetzen eine lange, krallenbewehrte Klaue sich durch deinen Körper gefressen hat.
Mit einem Schreckensschrei auf den Lippen richtest Du dich aufrecht auf. Du spürst, wie ein Tuch, das offenbar auf Dir lag, sich zu deinen Füßen zusammenfaltet, und nur das Gefühl in den Lidmuskeln verrät Dir, daß deine Augen nun weit offen stehen. Deine Ohren vernehmen noch den Nachhall deiner eigenen Stimme, bevor es wieder totenstill wird.
Die Klaue! Die Klaue, die sich Dir von hinten in den Rücken bohrte und durch die Bauchdecke wieder austrat! Die zu einem unirdischen Monster gehörte, das dich in einem Hinterhof angegriffen hatte! Auf das Du mehrfach mit einem Revolver aus deiner Tasche geschossen hattest, ohne daß es dieses Ungetüm ernsthaft hatte stoppen können...
Deine Erinnerungen verschwimmen, vermengen sich untereinander. Du denkst an den Arzt, an eine dunkle Gasse, ein Telefonat... Du bist nicht mehr sicher, ob dieses Monster nicht vielleicht nur ein Alptraum war.
Fast wie in Trance führst Du eine Hand zum Bauch, um die Stelle, an der die Klaue dich durchdrungen hat, zu befühlen. Ein dumpfes Gefühl wohnt ihr inne, und Du traust dich kaum, dir die Hand auf den Bauch zu legen. Doch irgendwann überwindest Du dich, und ein Gefühl von Übelkeit überkommt dich, als deine Hand auf die noch wunde und schmerzhafte Haut trifft. Ein leicht feuchtes Gefühl benetzt deine Fingerkuppen, und Du spürst deutlich das rohe Fleisch und die Muskelstränge, die unter einer dünnen Schicht aus Schorf und neuer Haut liegen.
Es war kein Traum! Schießt es dir durch den Kopf. Das Ungeheuer war echt! Was auch immer es war, es war real - und es hätte dich eigentlich umbringen müssen... So etwas überlebt man nicht!
Erst jetzt bemerkst Du, daß der Schmerz, den die Wunde immer noch ausstrahlt, in keinem Verhältnis zu ihrer Tiefe steht oder auch nur entfernt mit den Schmerzen vergleichbar ist, an die Du dich erinnern kannst - als Du in dem Hinterhof zusammenbrachst. Nunmehr scheint es kaum mehr als eine ernsthafte Magenverstimmung mit einem schweren Sonnenbrand auf dem Bauch zu sein. Was ist mit dir passiert?
Bevor Du dir weiter Gedanken darüber machen kannst, spürst Du einen Luftzug an deinem bloßen Rücken, und ein schwaches Licht ergießt sich in den Raum, der, wie Du nun feststellen kannst, außer Dir und deiner Lagerstätte nichts zu enthalten scheint. Du wendest dich dem Licht zu und erkennst eine Person in einer Ärmellosen, seidenartigen Tunika. Sie trägt an einer Kette eine Schale, in der ein paar glühende Kohlen liegen, welche das Licht spenden. In der anderen Hand hält sie eine große Kanne oder Karaffe. Als sie einen Schritt in den Raum hineinmacht, hörst Du es in der Karaffe plätschern, und während Du kurz darüber nachdenkst, ob diese Person, die kein einziges Haar auf dem Kopf zu haben scheint, Männlein oder Weiblein ist, bohrt sich dir mit mit der Intensität von Ammoniak ein leicht süßlicher Geruch in die Nase, der dir entfernt vertraut vorkommt. Doch ehe Du ihn identifiziert hast, verspürst Du ein rasendes Hungergefühl, stärker und heftiger als jemals zuvor in deinem Leben. In dieser Karaffe muß etwas zu trinken sein, und mit einem mal wird dir schmerzhaft bewußt, wie staubtrocken dein Mund ist. Beinah wie in Trance schwingst Du die Beine seitwärts von deiner Lagerstatt und willst dich aufrichten, doch versagen die Kniee dir den Dienst und Du gehst zu Boden.
Den Aufschlag verspürst Du kaum, dein Denken dreht sich nur um die Flüssigkeitin dieser Karaffe. Du willst davon trinken, nichts anderes scheint mehr wichtig zu sein. Mühsam und mit der letzten dir zur Verfügung stehenden Kraft rappelst Du dich auf und ziehst dich mit den Händen voran, dem Labsal entgegen. Kaum bemerkst Du die Stimme, die hinter der Gestalt im Türrahmen ertönt, kaum siehst Du die beiden weiteren Fußpaare, die sich zu dir begeben. Als man dir aufhilft und dich auf dein Bett zurücklegt, ist dein Blick eingeengt und in ein dumpfes Rot gehüllt, das nicht allein von den Kohlelampen herrührt. Du siehst nur noch die Karaffe und die Hand, der Du sie nun entreisst. Gierig setzt Du nun das Gefäß an die Lippen und neigst es, daß der Inhalt in deinen Mund fließt.


Krampfhaftes Schlucken ist das erste, daß Du wieder bemerkst. Als Du die Augen öffnest, siehst Du zwei Männer in kiltähnlichen Kleidungsstücken, die einen dritten hinter sich her hinausziehen.
"Ist Dir jetzt besser?" fragt eine weiche, dunkle Stimme. Als Du dich zu ihr umdrehst, erkennst Du, daß sie zu der Person in der Tunika gehört. Eine Frau, wie Du jetzt deutlich erkennen kannst. Überhaupt ist deine Sicht jetzt wieder deutlich klarer als nur wenige Augenblicke zuvor - oder waren es Minuten? Stunden gar?
"Was ist hier los?" Kommt es über deine Lippen, und es klingt ein wenig ungelenk und rauh in deinen Ohren, als hättest Du deine Zunge längere Zeit nicht mehr benutzt.
Durch die offene Tür, durch die von aussen noch mehr von dem orangeroten, diffusen Licht einfällt, welches das Kohlenbecken verbreitet, kommen zwei weitere Frauen hinein. Sie sind in seltsam anmutende Gewänder gewickelt, die wie gefärbte Tücher aussehen. Deutlich kannst Du es unter ihren Sandalen knirschen hören, als würden sie Sand auf dem festen Steinboden zertreten. In ihren Armen tragen sie Stoffbündel, und mit ihrer Ankunft bemerkst Du, wie wieder ein Hauch von dem verführerisch schwerem Duft in den Raum drängt...
"Dieses sind unsere Dienerinnen", sagt die glatzköpfige Frau. Erschrocken drehst Du dich ihr wieder zu. Du hattest sie schon wieder vergessen über dem Anblick der beiden anderen. "Sie werden Dir frische Kleider geben und Dich säubern, und wenn Du dann bereit bist, werden sie Dich zu mir bringen, wo ich Dir Rede und Antwort stehen werde."
Sie erhebt sich, und Du bemerkst, daß auf ihrer bodenlangen Tunika nun viele, unterschiedlich große Flecken sind, die feucht im Dämmerlicht der Kohlen glitzern. Du kannst aber nicht ausmachen, welche Farbe sie haben.
"Solltest Du noch einen Wunsch haben, zögere nicht, ihn zu verkünden", sagt sie im hinausgehen. "Diese beiden Frauen werden ihn Dir erfüllen!"
Du bist jetzt viel zu verdutzt, um wirkungsvoll auf dich aufmerksam zu machen, und auch die anfängliche Schwäche überkommt dich nun wieder. Innerlich bist Du sogar ein wenig dankbar, daß die beiden Frauen nun damit beginnen, dich zu säubern, obgleich Du nicht wenig darüber befremdet bist, erst jetzt festzustellen, daß Du außer deiner Unterwäsche nichts mehr anhast. Außerdem scheinst Du dich beim Trinken arg bekleckert zu haben, denn die feuchten Lappen der beiden stillen Frauen färben sich zunehmend dunkel.
Dir kommt ihre Technik vertraut vor, und als Du darüber nachdenkst, fällt dir deine Zeit im Krankenhaus wieder ein. Damals, in der Zeit nach der Wirbelsäulen-OP, als Du dich dich nicht selbst bewegen durftest, wurdest Du von den Krankenschwestern auf sehr ähnliche Art und Weise gewaschen. Als Du sie darauf ansprichst, halten sie kurz inne und sehen dich leicht irritiert an, bevor sie mit demselben Eifer fortfahren. Es scheint, als wollten sie neben der Arbeit kein Gespräch mit dir beginnen. Verwundert, aber auch leicht verärgert läßt Du sie gewähren.
Schließlich sind sie fertig, nachdem sie deine Wunde bedeckt und auch die Haare noch gewaschen haben. Die Kleidung stellt sich als eine Robe aus fließendem, äußerst angenehm zu tragendem Stoff heraus, die sie dir über den Kopf ziehen. Als sie dich fragen, bist Du sehr erstaunt über ihren unterwürfigen Tonfall Was mag hier vorgehen?


Die beiden Dienerinnen führen dich durch die dunklen Gänge. Alle paar Meter stehen Kohlebecken, die ihr dämmeriges Licht ind die monotone Schwärze der aus Beton gefertigten Gänge hinausstrahlen. Du bemerkst, daß in einem Gang, in dem anstelle der sonst verwandten Holztüren ein schwerer schwarzer Vorhang die Türöffnung verhüllt, die nackten Wände dunkel gestrichen und zum Teil mit düsteren Wandteppichen verhängt sind.
Trotz der zahlreichen Kohlebecken scheint es recht kühl zu sein, was Du dem teilweise zu Dampf kondensierenden Atem der beiden Frauen entnimmst. Zusammen mit den grauen Betonwänden scheint das auf ein recht weitläufiges Kellergewölbe hinzudeuten.
Doch viel Zeit läßt man dir nicht, um über das Gewölbe nachzudenken. Nach wenigen Minuten erreicht ihr eine Kammer, aus der leise eine ruhige Musik klingt - Harfentöne sind auszumachen - und die ebenfalls mit einem Vorhang vom Gang getrennt ist; hinter diesem fallen jedoch einige hellere Streifen Licht in den Gang. Eine der beiden Frauen zieht den Vorhang beiseite und bedeutet dir, hindurchzugehen.
Jenseits des Vorhangs betrittst Du eine scheinbar andere Welt. Auf dem Boden empfängt ein dicker, weicher Teppich deine baren Füßen und verwöhnt sie mit aufsteigender Wärme. Die Wände sind mit Vorhängen in angenehm weichen Farben verhüllt, im Raum stehen mehrere bequem anmutende Sessel und zwei Couchecken, alle scheinbar spielerisch mit Kissen und Deckchen belegt. In Wandhalterungen, zwischen den Vorhängen herausragend, sind in flaschenartigen Behältern mehrere große Kerzen entlang der Wände des großen Raumes verteilt, und zusätzlich spendet ein von der Decke herabhängender und sie matt anstrahlender Scheinwerfer Licht.​
In einem der Sessel liegt äußerst entspannt die Frau ohne Haare, die Augen geschlossen. Du kannst sehen, daß sich eine kleine Schlange in den Falten ihres Gewandes zusammen geringelt hat.​
"Willkommen, meine liebe. Ich bin Delia. Nimm bitte Platz. Ich hoffe, Du bist nunmehr gestärkt und bereit dafür, die Frage zu stellen?"​
Du bist zuerst ein wenig perplex, doch dann bahnt sich eine Frage ihren Weg durch dein Sprachzentrum: "Was ist hier los?"


Im Licht betrachtet ist Delia eine sehr schön anzusehende Frau, wenn sie auch einen etwas bleichen Teint hat. Doch der Grund dafür läßt dir kalte Schauer über den Rücken laufen, denn Delia erzählt Dir eine Geschichte, die Du kaum glauben kannst.
Ihren Worten nach ist sie der Abkömmling eines alten ägyptischen Gottes, dem Gott des Bösen, Set. Sie erzählt Dir eine Geschichte, in der sich Dir uralte Familienfehden in den längst vergangenen Städten der alten ägyptischen Hochkultur eröffnen, Geschichten, in denen die Götter Ägyptens unter den Menschen wandelten. In ihnen erzählt sie Dir vom Schicksal des Göttersohnes Set, der von seinem Bruder Osiris um sein königliches Erbe betrogen wurde und im Exil von einer Frau aus einem fremden Lande in den Stand der wahren Götter emporgehoben wurde – sie hatte ihn, der einst sterblich war, durch ihren unsterblichen Kuss zu einem Wesen gemacht, dem der Tod fremd war.
Weiter erzählt sie Dir von den Geschehnissen nach Sets Verwandlung, seiner Fahrt in das, was sie die Erste Stadt nannte, wo Set den Erzeuger seiner Erzeugerin traf, den König der Stadt. Von dem Aufstand derer, die sie die Geschwister Sets nannte, gegen die Kinder des Königs und Sets Auszug aus der ersten Stadt, seiner Rückkehr nach Ägypten und seinen unentwegten Kämpfen um das Land, das sein Bruder inzwischen tyrannisierte.
Doch Du kannst keinen Zusammenhang herstellen zwischen dem, was sie Dir erzählt, und deiner befremdlichen Lage, und das sagst Du ihr auch ziemlich deutlich, als sie eine kurze Pause einlegt.
Einen Moment lang blickt sie Dich traurig an. "Ich sehe, Du bist ein rechtes Kind Deiner Zeit, Tanja. Deshalb will es jetzt kurz machen.
Auch Du bist nunmehr ein Kind Sets. Auch Dir wurde von einem Seiner Kinder der unsterbliche Kuss geschenkt, und wie Set dereinst von seinem Großvater Ra, dem Herren der Sonne verflucht wurde, bist auch Du nun der Gnade der Dunkelheit ausgeliefert. Und wie Set durch die Aufmerksamkeit seiner Erzeugerin den Fluch ihres Erzeugers erhielt, sind auch wir beide verflucht in mehrfacher Hinsicht. Und wie Set nach seiner Begegnung mit IHR kein Mensch mehr sondern Gott war, so sind auch wir keine Menschen mehr.
Ich sehe, die Umschreibungen verwirren Dich, mein Kind. Deshalb jetzt, in aller gnadenlosen Kürze, die Essenz der Veränderungen, die Dich vor einer Woche befallen hat: Ein Kind Sets hat Dich auserkoren, der Gnade des dunklen Gottes teilhaftig zu werden. Sie hat Dir dein Blut genommen und es Set, dem Herren der Unterwelt, geweiht, bevor sie es Dir zurück gab. Durch diese Weihe hat sie Dich aus den Reihen der niederen Menschen gerissen und den Reihen der Jünger des Set hinzugefügt. Du bist nun das, was die Menschen einen Bluttrinker nennen."
Sie beugt sich vor, lächelt Dir in das ungläubige Gesicht. Dabei bemerkst Du, wie sich ihre Eckzähne hervor schieben, bis sie gut doppelt so lang sind wie zuvor. "Willkommen in den Reihen der Vampire, Tanja!"
(c) AGS
 
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