[Dezember 2006] Ich sehe was... das du nicht siehst.

Eldrige

Zombie-Survival Experte
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2. März 2004
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Es war eine dichtgedrängte Menschenmenge. Sie duftete nach Zimt, Glühwein und käsigem Schweiß und sie wogte beinahe pulsierend in ihrem kollektivem Rythmus vor sich her. Menschen drängten sich vor kleinen Buden, kauften klebrig süße Substanzen und schlangen sie gierig in ihre Münder. Sie wirkten alle ein wenig duselig und wohlig betäubt, als hätte die Jahreszeit sie völlig eingelullt.

Weihnachtsdroge...

dachte Lurker gallig. Wer immer sich diesen Trick mit Weihnachten hatte einfallen lassen, er war ein verdammtes Genie. Nichts brachte die Menschen der christlichen Hemisphäre wohl so sehr dazu Flagge zu zeigen wie dieses Marketing Monster namens 'Weihnachten'. Entweder sie kamen in Scharen auf diese unverschähmt teuren Märkte wie diesen hier, oder sie vergruben sich demonstrativ abweisend und konnten gar nicht mehr aufhören zu beteuern wie wenig weihnachtlich sie das alles fanden.
Aber Heiligabend nicht zur Mutti zu fahren und der Oma zu sagen das man jetzt ein harter Rebell war und überhaupt einen riesen Haufen auf diesen ganzen Kirchensch... gab, das traute sich dann auch wieder keiner.
Die Welt war also eigentlich gewohnt bigott und die Menschen beteten in aller Ruhe zu ihrer höchsten religiösen Inkarnation. Ob das nun Gott oder Mammon, Herr aller Kapitalisten war, das war bestenfalls eine unscharfe Grenze.

Der Nosferatu lächelte ein boshaftes Lächeln mit seinen schartigen Zähnen und seinen aufgebrochenen Lippen.
Er bewegte sich schon geraume Zeit durch diese Masse, setzte mit viel Bedacht einen Fuß vor den Anderen, blieb hier einmal unerwartet stehen, preßte sich dort kurz gegen die Wand einer Bude und duckte sich dort unter einer Lichterkette hindurch. Die Menschen blieben stehen um ihn nicht anzurempeln und sahen kurz auf die Uhr, oder blickten verstohlen mit glücklichen, durch heißen Rotwein geschwängertem Blick zu ihren Liebsten wenn Lurker an ihnen vorbei glitt und taten, wie sonst, auch jeden nur möglichen Kunstgriff um ihn nicht zu bermerken.
Es war einer dieser Nächte in denen er dieses Gefühl der Macht absolut genoß.
Es war ein leichtes die Ignoranz der Wesen die ihn am liebsten sowieso nicht sehen wollten zu nutzen, aber es war ein ganz eigenes, erhebendes Gefühl, wenn er sich durch so viele Sterbliche auf einmal bewegte.
Er war mindestens so gut versteckt wie der Teufel den Kommerz in Weihnachten versteckt hatte um Christus einen gehörigen Strich durch die Rechnung zu machen. Selbst diejenigen die etwas wahrnehmen mochten, sahen lieber verschähmt weg wenn die Wahrheit so häßlich und schäbig war.
Lurker leckte sich genüßlich die Lippen, so gut gefiel ihm die Metapher.

Aber er war nicht nur einfach hier um die Stimmung zu genießen, sondern aus praktischen Gründen. Er wollte sich hier und jetzt dem finalem Test stellen. Er hatte die letzten Wochen damit verbracht seine Bewegungen zu verfeinern und immer besser in die Wahrnehmungslöcher seiner Umgebung zu verschwinden. Sein Timing hatte sich ganz gut gemacht, fand er. Es gelang ihm immer besser genau dann zwischen zwei Personen hindurch zu huschen, wenn diese gerade einen Moment nicht aufpassten.
Oder passten sie genau diesen einen Moment nicht auf weil er sie dazu zwang ? Es war keine exakte Wissenschaft, sondern nuneinmal Gefühlssache. Die Heimlichkeit lag einem im Blut, man konnte Bewegunsabläufe üben, man konnte das Verhalten der Leute studieren und man konnte üben mit der Umwelt zu verschmelzen, aber gekonnt durch die blinden Flecken dieser Welt zu tanzen, das war Kunst und Kunst war niemals greifbar.
Er war sich ziemlich sicher das er soweit war, alles was er brauchte war eine passende Gelegenheit und diese hoffte er hier zu finden.
Er war es gewohnt durch die Nacht zu streifen und sich einfach zu nehmen was er wollte. Dinge im Vorbeigehen in seine Tasche zu stopfen, das fiel ihm so leicht wie Fahrrad fahren.
Aber er wußte das seinem Clan noch größere Macht gegeben war. Er wußte das die Meister ihres Faches ganz erstaunliche Dinge vollbringen konnten. Sie konnten zum Beispiel die Eingänge in ihre Bauten völlig aus der Wahrnehmung anderer verschwinden lassen, dauerhaft, und nur ausgewählten Personen erlauben die Türe zu sehen. Realität war nichts weiteres als der Konsens vieler Wahrnehmungen, daraus folgte - Wer die Wahrnehmung beherschte, der beherschte die Realität.

Als er den Kinderwagen sah wußte Lurker das er ein passendes Objekt für seinen Versuch gefunden hatte.
Wie ein Schatten glitt er an das klobige Gefährt heran und das kleine, schlafende Säuglingsgesicht spiegelte sich als kaltes Abbild in seinen trüben, grauen Augen.
Das Menschenbaby verzog mürrisch seine kleinen Lippen und die rosige Haut um die Augenbrauen zog sich zusammen als es die Stirn im Schlaf runzelte. Wenn man auf diesen metaphorischen Unsinn wert legte, dann mochte man jetzt denken das das Junge die Gefahr witterte, oder auf die drohende Dunkelheit durch den heranschleichenden Untoten reagierte.

Sehr viel wahrscheinlicher ist allerdings das es einfach Blähungen hat...

Das krächzende Lachen des Untoten fand nur in seinem Innerem statt. Sein Blick wanderte hinüber zu dem Schaufenster an dem die Person stand die er für die Mutter des Säuglings hielt.
Sie hatte den Blick sehnsüchtig in die Auslage im Schaufenster eines Juweliers versenkt. Ob sie sich selbst als eine funkelte Diamanten Göttin, umringt von einer Armee starker Männer die sie alle Begehrten sah, oder nur an bessere Zeiten dachte, während sie so in den Schmuck starrte blieb ihr Geheimniss. Für die Zwecke des Nosferatu war das auch einerlei. Er schob sich an das Ende des Kinderwagens und seine Finger wickelten sich leise und schleichend, wie eine Würgeschlange, um den Griff des Gefährtes.
Einen kurzen Augenblick hielt er inne, dann begann er sachte...ganz sachte... das Mobil in Bewegung zu setzen, schob es Milimeter für Milimeter weg von der schützenden Löwin die immer noch ihrer glänzenden Falle aus kostbarem Geschmeide erlegen war.
Triumph wallte in ihm auf, als er bemerkte das auch niemand der Umstehenden auf ihn und seinen Raub reagierte. Ein paar Menschen wichen dem Vehikel im letzten Moment aus und verzogen verärgert das Gesicht, bevor sie Kopfschüttelnd ihres Weges gingen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden was sie da eigentlich gerade so unmöglich gefunden hatten. Irgendein unwichtiges Ärgerniss wohl, aber doch ganz sicher kein Monster das einen Kinderwagen schob.
Ein leises Glucksen war noch zu hören, dann hatte Lurker mit dem Menschenkind in seinem fahrbarem Untersatz den Schatten einer Häuserwand erreicht. Er war zufrieden, er hatte es geschafft... Sein Blick fiel erneut auf das kleine, niedliche Köpfchen des Menschenwürmleins vor ihm. Seine Haut war ganz frisch, und zart. Wie Tau auf Rosen. Ein Grinsen teilte sein häßliches Gesicht.

Was für ein... leckeres Kerlchen...

Ein paar Meter weiter wandte sich eine Frau mit einem seeligem Leuchten in den Augen um und blickte auf ihren Kinderwagen. Eiskristalle stachen in ihren Kopf als sie bemerkte das sie nur ein Loch anstarrte, wo doch eigentlich ihr Kind stehen sollte. Das glückliche Leuchten in ihrem Blick bekam Risse und zerbrach wie Glas, als sich Panik wie ein kaltes Gift in ihre Adern schlich, ihr Rückgrat hinaufkroch und ihre Lungen zusammenpresste, so das sie für einige schreckliche Sekunden nicht einmal in der Lage war zu schreien.
Dann brach der Damm aus Entsetzen und zusammen mit einem Schwall aus Tränen und Rotz würgte sie mit von Furcht gebrochener Stimme etwas von ihrem Kind hervor.

Mein Kind...oh Gott Nein....Bitte..mein Kind...

Sie riss den nächststehden Passanten zu sich herum, krallte sich in die Ärmel seines Mantels und stammelte unverständliches Kauderwelsch. Der Mann riss sich verärgert los und suchte schnell das Weite, weil er instinktiv spürte das sich gleich eine unangenehme und peinliche Situation anbahnte.
Die Frau kreischte laut und brach schließlich zusammen. Eine Traube aus Menschen sammelte sich und Gemurmel wurde laut. 'Was ist denn nur los ?' hörte man hier, 'sicher ist sie betrunken' wurde es dort laut.
Einige beherzte junge Männer eilten zu der Frau und riefen das man ihr Platz machen sollte, während sie versuchten ihr auf die Beine zu helfen und ihre Hand hielten.
Es verging einige Zeit und schließlich hatte die Masse um die Frau aufgesogen und destilliert was geschehen sein mochte. Die Worte 'Baby' und 'Kinderwagen' raunten durch die Menge.
Schließlich hörte man einen älteren Herrn rufen.

Hier..in der Ecke... hier steht doch ein Kinderwagen.

Die Menge teilte sich als die Frau, immer noch gestützt von zwei jungen Burschen, sich hinüber zu ihrem Kinderwagen schleppte. Mit Grauen sah sie hinein in die Öffnung und erblickte das speckige Gesicht ihres Kindes.
Es rülpste einen leises Lüftchen das nach Milch roch und schmatzte dann zufrieden im Schlaf. Die Mutter brach weinend und überglücklich über dem Gefährt zusammen. Dem Kind ging es gut.
Die Menschen um sie herum versuchten sie nun zu trösten. Es sei ja schließlich nichts passiert. Ist ja alles nochmal gut gegangen. Wahrscheinlich habe sie den Wagen dort abgestellt, sei zum Schaufenster gegangen und wäre dann in Panik geraten weil sie einen Moment nicht daran gedacht hatte wo das Kind stand. Natürlich wäre es so oder so unverantwortlich gewesen wenn sie ihr Kind so weit entfernt im Schatten eines Hauses parkte, während sie selber fast hundert Meter weiter einen Schaufensterbummel zelebrierte. Aber sie sei ja nocheinmal mit einem blauem Auge davon gekommen.

Solche Wunder geschahen nun einmal nur an Weihnachten...
 
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