Rezension Der Wahrträumer (Gezeitenwelt #1)

Götterfresser

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Der Wahrträumer - Gezeitenwelt 1


Bernhard Hennen


Hier haben wir den ersten Teil des Gezeitenweltzyklus, den Wahrträumer von Bernhard Hennen. Hennen ist die unangenehme und schwierige Aufgabe zugefallen, den Zyklus zu eröffnen. Der Vielschreiber Wolfgang Hohlbein hat den Gezeitenwelt-Zyklus mit viel Vorschusslorbeeren bedacht. „Das größte deutsche Fantasy-Epos, das jemals geschrieben wurde“ tönt es da vom Rücken des Wahrträumers. Wie gut ist aber nun die Gezeitenwelt wirklich? Ist der Wahrträumer wirklich ein Buch, das sich qualitativ von anderen und trivialeren Serien abgrenzen kann? Eins ist jedenfalls klar: Wenn alle 13 Romane der Gezeitenwelt veröffentlicht worden sind, dann ist das Gezeitenwelt-Projekt wirklich das größte deutsche Fantasy-Epos, zumindest was die Seitenanzahl betrifft. Ob die Gezeitenwelt auch qualitativ das größte deutsche Fantasy-Epos wird, das steht jedenfalls noch in den Sternen. Doch konzentrieren wir uns auf den Inhalt des Buches.

Der Wahrträumer spielt in einer Fantasy-Welt, die durch einen Kometeneinschlag kurz- und langfristig verändert wird. Ganz ohne historische Anleihen ist der Roman aber nicht geblieben. So beschreibt er in vier Handlungssträngen unterschiedliche Kulturen und Zeitepochen. Der Schamanismus der Nordamerikanischen Indianer wird mit mystischen Katholizismus aus dem frühen Mittelalter, spät-mittelalterlichen italienischen Lebensgefühl und orientalisch angehauchten Wüstenkämpfen kombiniert. Dazu werden noch lateinische Fachausdrücke verwendet, die das Bild einer mittelalterlichen Kultur noch dezent unterstreichen sollen. So entsteht ein stimmiges Ganzes einer mittelalterlichen-italienischen Kultur, die in der Gezeitenwelt das merkantillische Imperium darstellt.

Das Buch selber ist in vier Handlungsstränge unterteilt. Da gibt es die junge Walfängerin Alessandra, die in einem kleinen Dorf nur Außenseiterin ist. Sie hält sich durch das gefährliche und lebensbedrohliche Geschäft des Walfanges über Wasser. Zu ihr halten nur der alte Klippenwächter Orlando und der stumme Tormo, die ebenfalls aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen sind und verspottet werden. Das soll sich aber alles rasch ändern, als Alessandra an einem Glückstag vier Norga-Wale erlegt und so zu einer der reichsten Frauen des Dorfes wird. Im Dorf hat man wieder Achtung vor Alessandra, sogar von den männlichen Dorfjungen wird die flachbrüstige, unattraktive Frau jetzt begehrt. Eine Dorfversammlung wird abgehalten, weil ein hoher Kirchenfürst aus Monte Flora, der Hauptstadt der Provinz, eingetroffen ist. Er lässt durch ein Los bestimmen, wer der ehrenvolle Auserwählte für die endgültige und todbringende Askese sein wird, die den neuen Stern am Himmel bannen soll, der jeden Abend immer heller über das Firmament zieht. Alessandra zieht das Los und muss dem Kirchenfürsten und seinen Soldaten nach Monte Flora folgen. Während der Reise überkommen Alessandra aber Zweifel an der Richtigkeit ihres Opfertodes, und sie kann aus der Hand des Kirchenfürsten fliehen. Als Alessandra zu ihrem Dorf zurückkehrt, findet sie nur noch Schutt und Asche vor. Das Küstendorf wurde durch eine Flutwelle, die der Einschlag eines riesigen Kometen im Ozean des Abends hervorgerufen hat, vollkommen zerstört. Nur Orlando und Tormo haben die Apokalypse im Dorf überlebt. Gemeinsam fliehen sie in die Berge, um sich vor den Schergen des Kirchenfürsten in Sicherheit zu bringen, der Alessandra noch immer verfolgt.
Der Roman erzählt auch von dem Kirchenfürsten Francisco, der Alessandra zur Endgültigen Askese auserwählt hat. Nachdem er bei der Flucht von Alessandra schwer verwundet wurde, wird er von seinen Soldaten nach Monte Flora gebracht. Langsam erholt Francisco sich von seinen Verletzungen. Er wird von seinem Vorgesetzten zum obersten Richter in Monte Flora ernannt. Francisco versucht Ordnung in das Chaos zu bringen, das in Monte Flora wegen des Kometeneinschlags und der daraus resultierenden Zerstörungen und Hungerkatastrophen herrscht. Dabei duldet er keine Härten gegenüber den Armen und legt sich mit reichen und mächtigen Händlern an. Außerdem wütet in Monte Flora eine geheimnisvolle Seuche, die Märchen und Legenden der betroffenen ärmeren Schichten erzählen von einem Atemdieb, der den Bewohnern von Monte Flora mit einem Kuss den Atem stehlen soll. Doch was ist wahr an dieser Geschichte? Um das Geheimnis zu ergründen, muss Francisco tief in innerkirchliche Intrigen und Geheimorden eindringen, um schließlich mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert zu werden.
Der dritte Handlungsstrang erzählt von einem jungen Geistertänzer der Windwanderer, Seruun, der weit von den Geschehnissen in Monte Flora entfernt in den Steppen Esanuks lebt. Seruun beherrscht die Kunst des Wahrträumens, er kann in die Zukunft sehen und durch Tiere das Land erkunden. Das Volk der Windwanderer glaubt jedoch nicht an seine Fähigkeiten und schickt den Schamanen fort. Nun muss er sich alleine durch die weiten Steppen kämpfen. Nach zahlreichen entbehrungsreichen Jahren fühlt er sich stark genug, um zu seinem Volk zurückzukehren und seine wahre Bestimmung als Geistertänzer und Führer seines Stammes zu erfüllen.
Der letzte und weitgehend von den anderen isolierte Handlungsstrang handelt von dem mutigen Offizier Joacino und seiner derben Stellvertreterin Ernanda. Nach einigen siegreichen Schlachten und entbehrungsreichen Märschen gelangt er mit seinen Truppen an den Hof eines Kirchenfürsten, der einen Feldzug in der angrenzenden Wüste führen will. Nachdem Joacino das Angebot des Kirchenfürsten angenommen hat, stürmt er in der Nacht die Feuerpforten, einen strategisch wichtigen Gebirgspass in der Wüste. Doch wie lange werden Joacino und seine Männer den Pass halten können? Eine blutige Schlacht entbrennt, und es sieht so aus, als ob Joacino mit seinen Männer ruhmreich im Kampf untergehen müsste.

Mehr möchte ich zum Inhalt noch nicht verraten. Insgesamt ist Bernhard Hennen seinem Anspruch gerecht geworden, den Herrn der Ringe nicht zum x-ten Mal zu kopieren, sondern er geht mit großer Liebe zum Detail recht professionell ans Werk. Hier ist kein Platz für gute Helden, die gegen das ultimative Böse kämpfen, sondern seine Charaktere sind gut und böse, sie wirken dadurch sehr plastisch und realistisch. Manche seiner Figuren wirken phasenweise etwas klischeehaft und steril, was eher an ein Rollenspielabenteuer als an einen echten Roman erinnert. Trotzdem hat man während des Lesens auch typische Aha-Erlebnisse, wo Handlungsstränge und Protagonisten gut und kunstvoll zusammengeführt werden. Leider gelingt es Bernhard Hennen nicht ganz, die einzelnen Handlungsstränge zum Schluss zu einem stimmigen Ganzen zu verknüpfen, mit etwas mehr Geduld hätte man aus diesem Roman ein richtiges Kunstwerk machen können. So lässt Bernhard Hennen einen Handlungsstrang zum Schluss links liegen, während er mit höchster Konzentration darauf achtet, die anderen Handlungsstränge richtig und ohne Bezugsfehler aufzulösen. Überhaupt hat man bei dem Schluss des Buchs den Eindruck, als ob Bernhard Hennen unter Veröffentlichungs- und Zeitdruck gestanden wäre. Der Beginn ist wirklich gut und toll erzählt, durch einen super Spannungsbogen wird die Spannung knisternd aufgebaut. Leider erzählt Hennen zum Schluss immer mehr auf immer kleinerem Raum, was das Lesevergnügen dann doch etwas trübt.

Wer die Rollenspielromane und Abenteuer von Bernhard Hennen kennt, wird aufgrund einiger Passagen, Protagonisten und Handlungsschauplätze sicher wissend nicken können, aber das Buch ist durchaus auch für Fantasy-Einsteiger geeignet. Zum Schluss seien hier noch einmal die künstlerische Aufmachung und Innenzeichnungen des Buches gelobt. Hier hat man das Gefühl, dass wirklich professionelle Künstler ans Werk gegangen sind, die dem Buch eine besondere Qualitätsnote verleihen sollen. Der Wahrträumer ist sicher ein großartiges und stimmiges Buch, auch wenn es zum Schluss Schwächen hat. Doch die Grundidee der verschachtelten Handlungsstränge ist so brillant, dass es kaum auffällt, dass Bernhard Hennen alle Mühe hat, die Handlungsstränge aufzulösen. Wer auf Rollenspiel und Fantasy steht, der muss dieses Buch sowieso haben, alle anderen können durchaus einmal einen Blick in eine fremde Welt riskieren. Wenn die anderen Gezeitenweltautoren das durchaus vorhandene Niveau des Wahrträumers halten können, dann scheint es wirklich so zu sein, als ob wir hier das größte deutsche Fantasy-Epos, das jemals geschrieben wurde, in den Händen hielten. Für Trivialliteratur ist die Gezeitenwelt sicher ein beeindruckendes deutsch-österreichisches Fantasy-Projekt.Den Artikel im Blog lesen
 
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