Dämonenbrut

grasi

Rampensau
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Dämonenbrut
Eine Kurzgeschichte von David Grashoff

Das kalte, fahle Licht einer knisternden Neonröhre taucht sein Gesicht in ein geisterhaftes Leuchten, das ihn aussehen lässt, wie eine Leiche, die soeben aus dem Kühlraum eines Pathologen entflohen ist. Sein Gang ist geschmeidig, fest und zeugt von Selbstvertrauen. Seinen Kopf hat er dabei leicht nach vorne geneigt, als würde er eine Spur wittern. Seine Augenhöhlen sind zwei dunkle Abgründe, in denen ein stahlblauer Schimmer so etwas wie Augen vermuten lässt. Bestimmten Schrittes geht er auf einen alten Lastenaufzug zu, der von kupferfarbenen Rostflecken übersäht und dessen grüner Lack schon großflächig abgebröckelt ist. Der Regen peitscht gegen die opaken Fenster der verlassenen Lagerhalle, doch das interessiert den Mann nicht. Er ist voll und ganz auf die bevorstehende Aufgabe konzentriert, auf den Job den er zu erledigen hat. Er reißt das Gitter des Aufzugs auf, steigt ein und mit einem heiseren Ächzen setzt sich der Fahrstuhl in Bewegung.

„Sein Name ist Stanislav Julenko. Er ist ein Mann mit speziellen Fähigkeiten für spezielle Aufgaben“, sagte die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung, dessen Englisch mit einem starken italienischen Akzent durchsetzt war.
„Ist er einer unserer Exorzisten, Cardinale?“, fragte Pater Garetty, der mit dem Verlauf des Gesprächs alles andere als zufrieden war. Hatte er doch gehofft, selbst sein kleines Problem lösen zu können, ohne dass man ihm dafür einen Aufpasser zur Seite stellte.
„Nicht im eigentlichen Sinne, er gehört vielmehr zu einer Spezialabteilung der Glaubenskongregation.“
Der Ton in der Stimme des Kardinals ließ keinen Zweifel daran, dass er keine weiteren Fragen in dieser Richtung akzeptieren würde.
„Ich hoffe sie haben alle Vorbereitungen getroffen“, fuhr der Kardinal fort, „Julenko wird morgen in Sacramento eintreffen.“
Garetty klopfte nervös mit den Fingerspitzen auf die Holzplatte seines Arbeitstisches.
“Ich habe alles besorgt, was auf ihrer Liste stand und die Familie ist auch informiert. Ich habe mir erlaubt eine Lagerhalle anzumieten für das Ritual. Sie befindet sich in meiner Gemeinde, einige Fußminuten von St. George entfernt“, sagte er und achtete darauf seiner Stimme einen festen Ton zu verleihen.
“Sehr gut, padre. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Julenko wird bald ihre Gemeinde von diesem dunklen Makel befreit haben. Viel Glück und Gott segne sie.“
„Danke Kardinal Lamprese”, sagte Garetty stumpf und legte den Hörer auf die Gabel.
Eine einzelne Schweißperle hatte sich auf seiner hohen Stirn verirrt, und rann nun gemächlich in Richtung seiner rechten Augenbraue hinunter. Obwohl die letzten Worte des Kardinals ihm hätten Mut machen sollen, spürte er eine tiefe Angst, weniger vor den künftigen Ereignissen, als vor den damit verbundenen Glaubensprüfungen, die ihm bevorstanden.

Als Julenko im ersten Obergeschoss den Fahrstuhl verlässt, kann er bereits die Schreie hören. Ein raues Kreischen, giftig und bösartig, dann ein grauenvolles Brüllen, dass jedem normalen Menschen das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen. Aber Stanislav Julenko ist aus einem anderen Holz geschnitzt, als „normale“ Menschen. Ohne das Gesicht zu verziehen, schreitet er durch den Gang der einstmaligen Lagerverwaltungsbüros. Seine Schritte klingen dumpf auf dem braunen, abgenutzten Teppichboden, verhallen ungehört zwischen den entsetzlichen Schreien, die aus einem der ehemaligen Büroräume kommen. Doch Julenko geht nicht in das Büro hinein, sondern er bleibt auf dem Gang stehen. Er schließt die Augen und beschnuppert die feuchte, nach Schimmel riechende Luft. Er kann das Böse spüren, er kann es riechen, wie den fauligen Atem eines Alkoholikers. Die Schreie verklingen, werden zu einem Zischen, dann zu einem kehligen, kratzigen Knurren.
„Der Dämon weiß bescheid, dass ich hier bin“, schießt es Julenko durch den Kopf. „Es wird Zeit ihn dorthin zurückzuschicken, wo er her gekommen ist!“

Pater Garetty konnte Julenko von Anfang an nicht leiden. Er war ihm nicht nur unsympathisch, sondern irgendwie auch unheimlich. Als der Mann am Morgen dieses verregneten Herbsttages plötzlich vor der Tür seines Pfarrhauses stand, blass, so weiß, dass man die blauen Äderchen unter seiner Haut sehen konnte, und dürr wie ein Knochengerippe, fragte sich Garetty, ob der Mann vielleicht an einer tödlichen Krankheit leide, an einem Krebstumor, der ihn von innen heraus auffraß.
Als Julenko das erste Mal das Wort an ihn richtete, war Garetty verwundert über die tiefe Stimme des Mannes. Er hatte eher etwas Dünnes, etwas Leises erwartet.
„Pater Jules Garetty?“, fragte der Mann emotionslos.
Der Priester nickte und bat Julenko in sein Pfarrhaus. Er hätte nicht sagen können, warum er das getan hatte, denn eigentlich beunruhigte der Mann ihn zutiefst; er kam ihm vor wie ein unberechenbarer Wolf, der gesättigt scheint, aber trotzdem jeden Augenblick zubeißen konnte. „Nett haben sie es hier“, bemerkte Julenko, immer noch mit diesem gleichgültigen Ton in der Stimme. Auf den alternden Priester wirkte er gefühllos, kalt, irgendwie unmenschlich.
„Nicht luxuriös, aber gemütlich“, antwortete Garetty und führte den Mann in seine kleine Küche. „Hat Kardinale Lamprese ihnen die Liste zukommen lassen?“, fragte Julenko, während er auf einen der schmucklosen Holzstühle Platz nahm.
„Ja, ja... ich habe bereits alles besorgt. Das hatte ich dem Cardinale auch schon mitgeteilt.“
Julenko nickte.
Garetty fuhr fort: „Möchten sie vielleicht etwas trinken. Ein Kaffee oder ein Tee vielleicht?“
Julenko musterte ihn aus bewegungslosen stahlblauen Augen. Erst jetzt bemerkte Garetty die helle Färbung der Iris, die so gar nicht in das blasse Gesicht seines Gastes passen wollten.
“Ein Glas Leitungswasser würde mir reichen.“
Ein Anflug von Freundlichkeit war in dem Satz mitgeschwungen, als wolle Julenko den Priester ein wenig beruhigen.
Auch Garrety nahm an dem Tisch platz. Dabei spürte er, dass der glasklare Blick Julenkos an ihm heftete, wie eine Klette.
Seit siebenundzwanzig Jahren war Garetty nun schon der Pfarrer dieser kleinen Gemeinde in Sacramento und obwohl er stramm auf die Sechzig zuging, war er gut im Saft, körperlich wie geistig. Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich mit Ängsten herumplagten, dafür war sein Glaube zu stark, aber die Ereignisse der letzten Tage hatten an seinem Nervenkostüm genagt, und nun saß auch noch dieser Typ hier und starrte ihn mit seinen kalten Augen an, dieser Spezialagent des Vatikans, der aussah als würde er eigentlich für die Gegenseite Personal rekrutieren.
„Pater Garetty, ich werde ihnen jetzt genau erklären, was sie heute Abend zu tun und wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie möchten, dass wir dieser Juanita helfen.“
„Sie heißt Benita. Sie ist...“
Julenko unterbrach ihn harsch.
“Es ist mir, egal wie dieses Mädchen heißt. Ich will nur den Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hat, kräftig in den Arsch treten und zurück in die Unterwelt schicken!“
Es war das erste Mal, dass er die Stimme erhoben hatte.
„Also Pater, hören sie mir jetzt bitte ganz genau zu. Wir können uns heute Abend keine Fehler leisten, es sei denn sie möchten, dass der Dämon sich bei ihnen einnistet?“
Garetty hörte zu.

Erst der Gestank, dann die Kälte, die Julenkos Atem zu kleinen weißen Wolken werden lässt. Die Präsenz des Dämons ist allgegenwärtig in dem geräumigen Büro, dessen große Fensterfronten mit Brettern zugenagelt sind. Nur müßig kämpfen sich einige trübe Lichtstrahlen durch die Ritzen zwischen den Brettern, wie Finger, die in den Raum greifen. Julenkos Augen fixieren das Mädchen, das, die Arme von sich gestreckt wie an einem Kreuz hängend, mit Handschellen an einen Heizkörper gekettet ist. Dreizehn oder vielleicht vierzehn Jahre ist sie alt und sitzt auf einer dünnen Matratze, die Knie am Körper gedrückt, den hasserfüllten Blick auf Julenko gerichtet. Obwohl sie ganz offensichtlich eine Latina ist, kann ihre Blässe es ohne weiteres mit der von Julenko aufnehmen. Ihre spröden, aufgesprungenen Lippen sind zu einem verzerrten Lächeln geformt, aus dem ein schlangenartiges Zischen kommt. Auf ihrem aufgedunsenem Gesicht, dem einer Wasserleiche nicht unähnlich, liegt ein bösartiger Ausdruck, der ganz im Gegensatz steht zu ihrer kindlichen Zierlichkeit. In sicherer Entfernung zu ihr steht Pater Garetty, eine Bibel ans Herz gedrückt und mit einem glänzenden Schweißfilm auf der Stirn. Julenko kann seine Angst förmlich riechen, die Zweifel in seinen unruhigen Augen ablesen. „Hoffentlich versaut er es nicht“, denkt der Abgesandten des Vatikans, während er auf das Kind zugeht.
„Hijo de puta! Cabron!“, giftet das Mädchen ihn an, doch Julenko zeigt sich unbeeindruckt.
„Die Jugend von heute hat keinen Respekt mehr vor dem Alter“, sagt Julenko trocken. Garetty wundert sich über Julenkos plötzlichen Anfall von Humor, doch nach Lachen ist ihm trotz jeder Verwunderung nicht zumute.

Die erste Begegnung mit Benita Fuentes war für Pater Garetty ein echter Schock gewesen. Natürlich hatte er seine Zweifel als man ihm von ihrer angeblichen Besessenheit berichtete; zu oft wurden epileptische Anfälle oder sogar die Symptome von Geisteskrankheiten als Zeichen der Besessenheit interpretiert, gerade bei den sehr gläubigen Lateinamerikanern, die in Sacramento oft in ärmlichen Verhältnissen leben mussten und deshalb oft nicht in den Genuss eines besonders hohen Bildungsweges kamen. Doch Benitas Mutter schwor dem Priester, dass ihre Kleine bis zu dem ersten Anfall kerngesund gewesen war und so entschied er, sich das Mädchen mal näher anzusehen. Was er dann zu sehen bekam, überzeugte auch ihn, dass Benita weder einen epileptischen Anfall hatte, noch dem religiösen Wahn verfallen war. Schon als er das Zimmer des Mädchens betrat, überkam ihn ein ungutes Gefühl.
Wie ein unsichtbares Leichentuch hatte sich eine plötzliche, innere Kühle über ihn gelegt, die ihm eine Gänsehaut bescherte. Die Fenster waren trotz der Hitze draußen geschlossen und die Läden so zugezogen, dass nur ein kleiner Spalt Licht einließ. Die Luft war schwer und Garetty kam es so vor als rieche es wie in einem Tierkäfig. Dieser Geruch erinnerte ihn entfernt an einen Zirkusbesuch in seiner Kindheit, als er sich hinter dem großen Zelt die Tiere in ihren rollenden Käfigen anschauen durfte. Das Mädchen, Benita, war mit Gürteln am Bett ihrer Eltern festgeschnürt worden und starrte apathisch an die Zimmerdecke. Garetty näherte sich ihr vorsichtig und sah, dass auf ihrem Gesicht ein sanfter Ausdruck lag, als würde sie mit offenen Augen schlafen und etwas Schönes träumen... oder als wäre sie tot. Plötzlich schoss ihr Kopf nach vorne. Die Gürtel strafften sich, das Bett ruckte und ihre lieblichen Züge verformten sich zu einer furchtbaren Fratze, währen sie nach ihm schnappte, wie ein hungriger Straßenköter nach einem Stück Fleisch schnappt. Garetty erschrak, stolperte einige Schritte nach hinten und fiel beinahe über einen Stuhl.
"Vade retro, pastor porcorum!", spie ihm das Mädchen ins Gesicht.
Latein. Woher konnte das Mädchen Latein?
Garettys Herz raste noch vor Schreck, und er spürte das Blut in seiner Halsschlagader pochen.
„Wer bist du?“, fragte er zögernd.
„Deine schwanzlutschende Mutter, du Schweinepriester!“
Sie streckte dem Priester ihre Zunge entgegen und ließ sie in einer obszönen Bewegung kreisen. Garetty rechte Hand griff in einer unbewussten Bewegung nach seinem Kreuz.
Plötzlich sprach sie mit der Stimme seines Vaters.
„Ach übrigens mein Sohn, es gibt keinen Gott! Gott ist tot! Der alte Sack ist an Penisfäule gestorben, aber immerhin hat ihn nicht der Kummer dahingerafft, wie deine Mutter.“
Die Stimme wurde weicher, weiblich, zu der seiner Mutter.
„Warum hast du mir da angetan, Jules? War ich denn so eine schlechte Mutter? Musstest du mich alleine sterben lassen? Warum?“
Er spürte Tränen in seine Augen schießen. Vielleicht war es der Schock, vielleicht auch wiederkehrende Schuldgefühle für etwas, das er bereits lange verdrängt hatte.
Das Mädchen lächelte den Priester an, wohlwissend, dass sie ihn an einer wunden Stelle getroffen hatte.
Irgendwo weit draußen fiel ein Schuss.
Für einen Augenblick, einen ganz kurzen Augenblick, wünschte sich Garetty er hätte eine Waffe, eine Pistole, um dieses Ding auf dem Bett zu erschießen.

Ganz gemächlich zieht Julenko sein schwarzes Jackett aus und legt es ordentlich auf einen Stuhl, den er in der Nähe des Mädchens hingestellt hat. Sie beobachtet ihn dabei ganz genau, lässt ihn nicht aus den Augen, knurrt oder würgt ein heiseres Röcheln aus ihrem Hals. Während Julenko sich den Ärmel seines schwarzen Hemdes aufknöpft, nickt er dem Priester zu, der darauf hin seine Bibel aufschlägt.
„Iudica, Domine, iudicantes me; impugna impugnantes me!”, liest er laut vor.
„Streite, Herr, gegen alle, die gegen mich streiten, bekämpfe alle, die mich bekämpfen“, übersetzt Julenko den Satz in Gedanken und für den Hauch einer Sekunde umschmiegt ein zynisches Lächeln seine Lippen.
Während Julenko auch sein Hemd auszieht, wiederholt der Pater immer den gleichen Psalm.
„…et captio, quam abscondit, apprehendat eum, et in eandem calamitatem ipse cadat...“
Er fange sich selbst in seinem Netz, er falle in die eigene Grube. Julenko bleibt das Zittern in der Stimme des alten Mannes nicht verborgen. Er hofft, dass der Priester standhaft bleibt. Er braucht ihn ... ihn und seinen Glauben.
Mit entblößtem Oberkörper, blass, skelletös, baut sich Julenko vor dem Mädchen auf. Trotz der Dunkelheit kann man erkennen, wie sich auf der weißen Haut seines Oberkörpers die Rippen abzeichnen.
„Iudica, Domine, iudicantes me; impugna impugnantes me!”
Benita erwacht wieder zum Leben und zerrt grob an ihren gepolsterten Handschellen, während sie Julenko ankreischt: „Du Sohn einer menschlichen Hure! Verflucht seist du und deine Nachfahren, falls du deinen Schwanz überhaupt noch hoch kriegst, du Missgeburt!“
„Danke, ich habe in der Hinsicht keine Probleme“, antwortet Julenko trocken.
Das Mädchen wendet sich dem Priester zu.
„Und du Schweinepriester arbeitest mit der Brut eines Dämons zusammen! Schau ihn dir an Garetty, glaubst du so sieht ein normaler Mensch aus!“
„…et captio, quam abscondit, apprehendat eum, et in eandem calamitatem ipse cadat...“, leiert der Priester weiter herunter, richtet aber den Blick auf Julenko.
Sieht so ein normaler Mensch aus?
Der Mann hat schon was Eigenartiges an sich, wie er dort vor dem Kind steht und tief ein und ausatmet, als würde er sich auf eine Yogaübung vorbereiten.
Julenko schließt die Augen und murmelt etwas, das der Priester nicht versteht. Hebräisch, glaubt Garetty zu erst, doch die Sprache klingt zwar archaisch, aber irgendwie auch abgehackt, knackend, nicht so rund, wie Hebräisch.
Das Gesicht des Mädchens verzieht sich zur Fratze, sie fletscht die Zähne und stößt ein tiefes Knurren aus, das unmissverständlich an Julenko gerichtet ist, doch der dürre Mann ist zu sehr in seiner undefinierbaren Litanei gefangen, als dass er mitbekommt was sich auf der anderen Seite seiner geschlossenen Augenlieder abspielt. Er streckt die Arme von sich und seine Stimme nimmt an Lautstärke zu. Für Garetty ist das ein weiteres Zeichen. Nervös und mit feuchter Hand wühlt er in der Tasche seiner Jacke und holt eine kleine Flasche Weihwasser hervor.
„Karzul nakar rektumnak! Torgun orklaide retkal!“, brüllt das Mädchen.
Die gleiche Sprache, die auch Julenko gerade spricht.
Immer noch den gleichen Psalm rezitierend, beginnt Garetty das Mädchen mit dem Weihwasser zu bespritzen. Sie schreit auf, als würde man sie mit siedendem Öl übergießen.
„Lasst mich in Ruhe ihr Schweine! Bastardos! Hurensöhne! Cerdos!“, heult sie auf. Plötzlich hat Julenko einen verzierten Dolch in der Hand. Garetty hat keine Ahnung, woher der Mann die Waffe hat, doch er befürchtet Schlimmes, sieht schon den hageren Mann auf das Mädchen losgehen. Hatte er nicht schon ähnliche Gedanken gehabt?
Doch Julenko macht keine Anstalten die Waffe gegen Benita einzusetzen. Er dreht die Klinge in seine Richtung und setzt die Spitze des Messers auf seinen Brustkorb. Langsam und immer noch in der seltsamen Sprache sprechend, fast singend, drückt er das Messer nach unten und zieht eine rote Linie auf seiner kalkweißen Haut.
Das Mädchen lacht auf, hysterisch und gehässig zugleich.
„Du lädst mich ein, Bastard?“, fragt sie spöttisch.
„Du der Sohn einer Höllenhure lädst mich ein?“
Komm nur, denkt sich Julenko, komm nur du Stück Scheiße, während er die Einladung immer und immer wieder ausspricht... natürlich in der Sprache der Dämonen, in der Sprache seines Vaters.

„Pater sie werden Dinge sehen, die sie sich bisher nicht einmal vorzustellen wagten. Sie dürfen dabei auf keinen Fall die Kontrolle über sich verlieren. Was immer auch passieren wird, bleiben sie ruhig, halten sie sich an meine Anweisungen und sprechen sie auf keinen Fall den Dämon direkt an. Haben sie das verstanden?“
Jules Garetty nickte, während er noch einmal seinen Blick über die Notizen schweifen ließ, die er in der letzten Stunde gemacht hatte.
Julenko nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas und sprach weiter: „Es wird ein Zeitpunkt kommen, an dem ich ihnen vielleicht seltsam vorkommen werde, als wäre ich nicht der Herr meiner Taten. Auch dann müssen sie bitte Ruhe bewahren und einfach weiter ihren Psalm vortragen.“
„Aha, noch seltsamer“, dachte der Priester.

Plötzlich geschieht etwas mit Benita Fuentes. Ihr zierlicher Körper wird von Krämpfen geschüttelt, wie bei einem epileptischen Anfall. Weißer Schaum quillt aus ihrem Mund, während ihr Gesicht sich aufbläht, als würde jemand in einem unsichtbaren Ventil, Luft in ihren Kopf pumpen. Garetty macht sich Sorgen, sieht aber dann, dass Julenko die Augen wieder geöffnet hat und das Mädchen anschaut. Er wird schon wissen, was er tut, denkt der Priester... hofft er. Immerhin wurde er vom Vatikan geschickt, beruhigte er sein Gewissen. Das Mädchen windet sich im Rahmen ihrer eingeschränkten Möglichkeiten, bäumt sich auf, schreit, heult und spuckt immer wieder wüste Beschimpfungen und weißen, breiigen Schaum aus. Jetzt erscheinen Beulen in ihrem Gesicht, sich bewegende Beulen, als würde kleine daumengroße Tiere unter ihrer Haut hin und her krabbeln. Julenko lächelt. Er weiß, dass der Dämon seine Einladung angenommen hat.

Den Nachmittag hatte Pater Garetty damit verbracht die Vorbereitungen zu treffen, die er mit Julenko abgesprochen hatte. Dabei gingen ihm die ganze Zeit die Warnungen des Gesandten des Vatikans durch den Kopf. Natürlich glaubte er an die Existenz von Dämonen, aber bisher eher im übertragenen Sinne, als Metapher für das Böse im Menschen und nicht als etwas Materielles, das ihn beleidigte oder gar bedrohte. „Sprechen Sie den Dämon niemals direkt an!“, geisterte Julenkos Stimme durch den Kopf des Priesters, als er mit seinem alten Subaru die paar Meter zu dem verlassenen Fabrikgelände fuhr. Das habe ich nicht vor, ganz bestimmt nicht.

Das Mädchen reißt den Mund unnatürlich weit auf und offenbart einen dunkelroten Schlund, aus dem Garetty ein summendes Geräusch vernimmt. Die beweglichen Ausbuchtungen auf ihrer Haut verschwinden und ihr Körper erzittert unkontrolliert. Plötzlich schießt ein schwarzer Strahl aus ihrem Rachen, ein sich windender Schwall aus dunkler, surrender Materie, der sich vor dem knienden Mädchen ergießt. Immer wieder bäumt sie sich krampfartig auf, zerrt an ihren Handschellen, während die undefinierbare Masse aus ihr strömt, wie Wasser aus dem Maul eines Wasserspeiers. Julenko steht ihr absolut regungslos gegenüber, den Blick starr auf das zuckende Mädchen gerichtet, völlig in seiner Konzentration vertieft.
Jetzt endlich erkennt Garetty, was sich aus dem Rachen von Benita ergießt: Insekten.
Seine Augen weiten sich.
Ein Schwarm von Fliegen, Käfer, Schaben und Tausendfüßler, der sich vor den Augen des Priesters zu etwas entfernt Menschlichem formt, zu einer schattenhaften Gestalt, einer befremdlichen Silhouette. Garetty spürt die Panik in sich aufsteigen, wie eine Welle, die über ihn bricht. Sein Mund halb geöffnet, stottert er nur noch, anstatt die Verse vorzutragen.
Jetzt erzittert auch Julenkos Körper, doch anders als der des Mädchens, als würde er seine Muskeln bis zur Schmerzgrenze anspannen. Ein letzter Stoß Insekten entfleucht aus Benitas Mund, die daraufhin zusammenbricht, wie ein Schaaf bei der Schächtung. Garetty strauchelt zurück, als sich das Insektenwesen zu ihrer ganzen Größe aufbaut.
Eine unstete Gestalt, die bis zur Decke des Büroraums reicht und von Millionen Insekten gebildet wird. Um sie herum eine Aura schwirrender Fliegen und Mücken, die den Eindruck vermittelt, das Wesen wäre irgendwie unscharf, als würde es flackern.
Garetty, der nun vollkommen der Panik verfallen ist, bekreuzigte sich in einem fort und sagt dabei wieder und wieder das Vater Unser auf.
Doch der Dämon interessiert sich nicht für den Priester. Sein Blick oder zumindest etwas, das man als sein Blick interpretieren kann, ist stur auf den bleichen Julenko gerichtet, der immer noch zitternd, nun mit ausgebreiteten Armen, vor ihm steht. Das Wesen stößt einen heiseren Laut aus, tief, markerschütternd und bedrohlich.
Julenko öffnet seinen Geist, spricht noch einmal die Einladung aus, wohlwissend, dass die Kreatur ihr nicht wird widerstehen können. Der Anflug eines Lächeln huscht über das Gesicht des Halb-Dämons Julenko.
„Mein Gott! Was bist du?“, stammelt Garetty, der mit dem Rücken an der Wand und großen, staunenden Augen den Dämon anstarrt.
Beinahe synchron drehen sich die Köpfe Julenkos und des Insektenwesens in die Richtung des Priesters. Während auf Julenkos Gesicht ein Ausdruck des Entsetzens erscheint, glaubt Garetty im kopfartigen Auswuchs des Dämons ein bösartiges Grinsen zu erkennen.
„Sprechen Sie den Dämon niemals direkt an!“, schießt es Garetty durch den Kopf, als er merkt, dass er genau das gerade getan hat.

Julenko war noch im Wagen des Priesters geblieben, um sich zu sammeln. Der Himmel hatte sich in der letzten Stunde zugezogen und erste dicke Regentropfen zerplatzen auf der Windschutzscheibe, bildeten kleine, transparente Blumen, die nach wenigen Sekunden träge herabflossen.
Julenko, der Bastard eines Dämons, machte sich bereit für den Kampf. Er schloss die Augen und fällte eine Entscheidung. Er würde den Dämon einladen, ihn in seinen Körper bitten, und ihn dann, wenn er ihn fest im Griff haben würde, töten, ihn vernichten und sich an seiner Kraft laben. Der Dämon würde die Gelegenheit nicht ausschlagen können, von dem abtrünnigen Mischling Besitz zu ergreifen. Das Mädchen war ein Spielzeug für den Dämon, eine leichte Beute, an der er schnell das Interesse verlieren würde, spätestens dann, wenn ihr junger Körper verwelken würde. Julenko hingegen war etwas Besonderes, etwas, das dem Dämon Macht, Respekt und Anerkennung bringen würde unter seinesgleichen, beinahe fast soviel, als hätte er es geschafft von einem Mann Gottes Besitz zu ergreifen.

„Idiot“, sagt Julenko trocken, während der Insektendämon in sich zusammenbricht und als eine surrende Wolke auf den Priester zuschießt, der sich mit panischem Blick die Bibel an die Brust drückt. Julenko besinnt sich auf den Dolch in seiner Hand und rast in einer unmenschlich schnellen Bewegung auf den Priester zu. Noch bevor der Insektenschwarm bei Garrety ist, führt er einen sauberen Schnitt am Hals des Priesters durch. Fontänenartig schießt das Blut aus der Wunde und ergießt sich auf den Schwall der Insekten, der für einen Moment ziellos um den zusammenbrechenden Priester schwirrt.

Als Julenko die verlassene Lagerhalle betrat, drehten sich seine Gedanken um den Priester. Er fragte sich, inwiefern Garetty die bevorstehenden Ereignisse verkraften würde. Den ganzen Tag lang hatte er ihn beobachtet und war sich nicht sicher, ob der alternde Pfaffe in der Lage war standhaft zu bleiben, wenn sich der Dämon zeigen sollte. Nicht, dass er an den Glauben des Priesters zweifelte, aber er hatte ein schlechtes Gefühl dabei. Wie ein undefinierbarer Druck im Magen, nicht schmerzhaft oder wirklich störend, aber da.
Er hoffte nur, dass Garetty sich an seine Anweisungen hielt und nicht auf die Idee kam, den Helden spielen zu wollen.
Einen Dämonen, dem es gelang einen Diener der Gegenseite zu kontrollieren, würde seine Macht um das Hundertfache steigern, und das konnte Julenko nun wirklich nicht gebrauchen.

Jetzt bemerkt der Schwarmdämon, dass der Priester tot ist und stürzt sich auf Julenko. Der blasse Mann schwankt und taumelt mehrere Schritte nach hinten, als ihn die dunkle Masse mit der Wucht einer fahrenden Straßenbahn trifft. Er stolpert, fällt zu Boden und wird unter einer Decke von wuselnden schwarzen Insektenleibern begraben. Julenko spürt Millionen von winzigen Beinen und Fühler an seinem Körper. Er spürt, wie sie in seine Nase krabbeln, in seine Ohren. Mit weiträumigen Bewegungen schlägt Julenko um sich, aber es ist wie der Versuch den Wind zu schlagen. Nach Luft ringend öffnet Julenko den Mund, und ein Strom aus krabbelndem Getier ergießt sich hinein. Panisch spuckt er sie wieder aus und rollt sich auf den Bauch. Dabei legt er beide Hände auf dem Gesicht und atmet hektisch in diese schützende Schale hinein. Es gelingt ihm sich zu beruhigen und seine Konzentration auf das Wesentliche zu lenken. Jetzt spürt er die geistigen Fühler des Dämons, wie sie eine Lücke in seiner psychischen Schutzhülle suchen. Stanislav Julenko kennt das Gefühl eines eindringenden Dämons nur zu gut, dieses Gefühl, als würde man seine Seele mit tiefen, schmutzigen Stößen vergewaltigen, als würde jemand versuchen mit eiskalten Händen sein Gehirn zu zermalmen. Julenko entscheidet sich zu einer spontanen Planänderung. Er sammelt sich und vergisst all das, was um ihn herum passiert, den Dämon, das Mädchen, den Priester, die Lagerhalle, alles wird verdrängt. Im Geiste beginnt er eine Litanei in der Dämonensprache vorzutragen. Ein Gebet, das ihm einst sein Vater beigebracht hatte, damals als er noch dachte, sein Sohn würde sich seiner Sache anschließen. Julenkos Vater Belial, der Prinzdämon des Feuers, dessen dämonisches Blut auch in Julenkos Adern floss, hatte ihn so einige Tricks beigebracht, für die er heute, wo er auf der anderen Seite kämpfte, sehr dankbar war. Seine Umgebung hat Julenko jetzt komplett abgeblendet. Seine ganze Konzentration gilt der Litanei, dem dämonischen Gebet, dem Zauber, mit dessen Hilfe er den Schwarmdämon vernichten will. Feuer. Flammen. Hitze. Der Geruch von verkohltem Fleisch. Das Knistern einer Feuersbrunst. Julenkos Körpertemperatur steigt rapide an, während der Schwarmdämon beinahe seinen geistigen Schutzpanzer durchdrungen hat. Ein leichtes Flimmern umgibt jetzt seinen Körper, der immer noch von einem Kokon aus Insektenleibern umhüllt ist. Dann, als der Dämon gerade von seinem Geist Besitz ergreifen will, stößt Julenko einen rauen, tiefen Schrei aus, der die Stahlträger und die Fenster des Gebäudes zum erzittern bringt. In einem Mal steht sein Körper in Flammen.
Während die Kleidung an seinem Leib verkohlt, gibt es bei dem Halb-Dämonen Julenko keine Anzeichen für Verbrennungen, keine Blasenbildung, keine Verfärbung der Haut. Knisternd und knackend gehen die Insekten im flammenden Inferno, das den nackten Mann umgibt, zugrunde. Wieder schreit Julenko, während seine feurige Aura sich für einen kurzen Augenblick ausbreitet und sich gierige Feuerzungen nach dem flüchtenden Ungeziefer strecken. Wie ein fernes Echo vernimmt er das Brüllen des Schwarmdämons, der qualvoll im Höllenfeuer verendet und somit seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Insekten hat Julenko noch nie leiden können.

Benita erwachte langsam. Sie fühlte sich schmutzig, ihre Handgelenke taten ihr weh, ihr Mund und ihr Hals war trockener, als eine Dörrpflaume und sie musste ganz dringend pinkeln. Sie öffnete die Augen und sah, dass sie auf einer Matratze lag, inmitten eines alten, verlassenen Bürogebäudes. Was machte sie hier? Wie war sie hierher gekommen? Obwohl sie sich mächtig anstrengte, konnte sie sich an gar nichts erinnern. Mühsam stand das Mädchen auf und entdeckte einen dunklen Fleck einige Meter rechts von ihr. War das etwa Blut?
Alles andere als sicher auf den Beinen, torkelte sie auf eine offene Tür zu, die scheinbar zum Flur führte. Sie stützte sich am Türrahmen und sah nach links in den Gang hinein. Dort stieg gerade ein nackter, blasser Mann in einem Aufzug ein. Über seiner Schulter trug er den schlaffen Körper eines weiteren Mannes. Bevor sich die Aufzugtür schloss, sah Benita dem Mann einen kurzen Moment in die Augen. Sie hätte schwören können, dass sie rot gefunkelt hatten.
 
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