[Beginn Mai 2008]Interessensgebiete

Regine

Tremere
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23. Juli 2009
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Irgend wann in der Hektik von Finstertal fand Anna die Zeit sich um die Dinge zu kümmern, die für sie wichtig waren, unabhängig von den unzähligen Brennpunkten, die diese Stadt bot. Immer wieder knapste sie ein wenig Zeit ab, mal hier, mal dort. Sie wollte sich hier mehr aufbauen als nur irgend eine der Haudraufs zu werden, wofür andere eh weit besser geeignet waren als sie selbst.

Sie durfte die Dinge nicht vernachlässigen, in denen ihrer Stärke lag. Die junge Frau gewöhnte sich einen Knopf im Ohr an, so lang sie nicht gerade in Gesellschaft, mit der sie sich befassen musste aber trotzdem ausserhalb ihres Zimmers war. Im Wechsel spielte der kleine Knopf im Ohr Lektionen in unterschiedlichen Sprachen ab. Ihr fehlte der konkrete Lehrer und so hatte sie bisher in Finstertal nur über diesen Weg an ihrer Grammatik zu üben. Vokabel- und Grammatiktraining gingen ihr gut von der Hand.

Es galt wohl auch gewisse Kontakte in die Menschenwelt Finstertals auf zu bauen. Schon allein wegen ihrer Fernstudiengänge in Bezug auf ihre Fortbildung der Sprachen musste sie sich um neue Ansprechpartner kümmern. Ihre Hamburger Lehrer konnte sie zwar immer noch per Mail erreichen, doch hatte sie Arrangements getroffen für die wenigen Treffen.

So verschickte die Tremere die eine oder andere e-mail. Bis auf das Anrede klangen sie alle ziemlich ähnlich.

Guten Abend, Herr Peters,

wie ich Ihnen bereits vorab angekündigt hatte, hat meine Firma mich nach Finstertal versetzt. Selbstverständlich nehme ich weiter an meinen Fernlehrgängen an. Bitte senden sie mir die Kontaktdaten für meinen Ansprechpartner vor Ort zu.

Finstertal war keine kleine Stadt, Prüfungen wurden auch hier ab genommen, auch wenn die im Sommer für Anna so gar nicht in Frage kamen. Vielleicht ergab sich daraus etwas interessantes.

Die graue Theorie beim Lernen der Sprache war jedoch nur eine Seite. Mochten Bücher in der jeweiligen Sprache schon etwas mehr Gefühl für die richtige Verwendung vermitteln, so reichte es doch genau so wenig wie die Tonaufnahmen, so reichten sie Anna nicht aus um das Gefühl für die gesprochene Sprache zu entwickeln, die normale Unterhaltung.

Das Internet vereinfachte im Gegensatz zu früher doch einiges. Früher hatte sie wissen müssen, was sie suchte, wenigstens, wie es sich wahrscheinlich nannte. Ansonsten war das Telefonbuch sehr schweigsam. Es war mühsamer gewesen an die ersten Informationen zu kommen. So machte sie sich auf die Suche nach der Chinesischen und der russischen Gemeinschaft in Finstertal. Die beiden Volksgruppen waren in den meisten deutschen Städten durchaus stärker vertreten und es gab fast überall Vereine, die dem Austausch der Kultur dienten. Für den ersten Kontakt wählte sie schlichtes deutsch.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich interessiere mich für Sprachen und habe über eine Fernuniversität einen Lehrgang in Chinesisch (Russisch) gebucht. Meine Firma hat mich vor kurzem nach Finstertal versetzt. In meiner Heimatstadt hatte ich bereits Kontakt zu chinesischen (russischen) Gemeinde, um die Sprache nicht nur in der trockenen Theorie zu lernen und gleichzeitig auch mehr über ihre Kultur zu erfahren. Leider muss ich derzeit viel arbeiten und habe erst in den späten Abendstunden Zeit. Haben sie vielleicht trotzdem einen Vorschlag für Veranstaltungen ihres Vereins oder können mir eine Art Stammtisch oder ähnliches empfehlen, dem ich mich anschließen könnte?

Mit freundlichen Grüßen

Lisa Reeben
 
Anna erhielt Einladungen eines Kulturvereins und einer russisch - orthodoxen christlichen Gemeinde in Finstertal, letztere allerdings zum Gottesdienst am Sonntag mit anschließendem Kaffeetrinken und Volkstanz. Wer musste auch an einem Sonntag, dem Tage des Herren, arbeiten?
Der Kulturverein diente vor allem vielen älteren russischen Männern als Treffpunkt, die meisten davon fröhnten dem Schachspiel, einer der beliebtesten russischen Freizeitbeschäftigungen. Ein russicher Fernsehsender lief fast die gesamte Zeit und versorgte die Leute mit Informationen aus der Heimat und den Sportfan mit Ergebnissen aus der KHL und der Fußballliga.
Eines konnte man allerdings sagen: Der Vodka war exzellent!
 
Vodka. Da war was. Und da gab es noch etwas, was die chinesische und die russische Kultur gern an sich hatten. Bei den Russen bogen sich gern mal die Tische vor lauter Essen und bei den Chinesen... nun, dort Essen ab zulehnen war auch nicht das freundlichste. Im gegensatz zu so manch anderem Kainiten konnte Anna das Zeug ohne Blut auf keinen Fall bei sich behalten und Blut bevorzugte sie definitiv pur. In Gegenwart der Menschen lut zu trinken aus einem Glas oder so kam eher weniger in Frage. Wenn sie sich mit denen treffen wollte, brauchte sie eine Entschuldigung, die es ihr erlaubte, bei diesen dingen ab zu lehnen. Religiöse Gründe oder 'Veganer' waren da nichts, was sich eignetete. Diabetes haben recht viele Menschen und wenn anna Pech hatte, würden sie ihr Dinge anbieten, die für Diabetiker geeignet waren. Nein, die Krankheit musste ausreichend schwerwiegend und gleichzeitig in der Behandlung eher unbekannt sein. Schädigungen der Leber boten sich bei Verzicht auf Alkohol an. Neonatale Hämachromatose klang gut, aber wenn sie jemals in deren Gesellschaft etwas zu sich nehmen wollte, würde sie es mit Blut vermischen müssen und das würde definitiv nach eisen riechen. Das degradierte diese Krankheit zu einer absoluten Notlösung. Colitis ulcerosa klang vielversprechender. Wenigstens würde das erklären, warum sie der Meinung war auch in einer weniger aktiven Phase, nur bestimmte, selbst zu bereitete Lebensmittel zu sich nehmen zu wollen, weil sie dann wusste, was enthalten war. Akoholverzicht wurde auch empfohlen.. Die progressive systemische Sklerodemie lies Anna innerlich schmunzeln. Auf dieses Schätzchen kam sie, als sie im Kopf die Autoimmunkrankheiten durch ging. Mimikverlust gehörte unter anderem zu den Symptomen. Bei der diffusen Variante waren auch die inneren Organe betroffen, womit man den Alkoholverzicht und die Nahrungsmittel erklären könnte. Nein, die chronische Darmentzündung war da die bessere Variante.

Schach also. Mit den Grundlagen des Spiels war Anna wohl vertraut. Nicht nur in ihrer Kindheit hatte sie sich mit dem Spiel auseinander gesetzt. Nach ihrer Zeugung spielte das Schachspiel zwar keine all zu große Rolle, war aber dennoch Thema in ihrer Erziehung. Es berührte eines der Lieblingsthemen ihres Sires, was sie an ging. "Ventrue und ein paar andere lieben das Schachspiel. Sorge dafür, dass du dich ausreichend mit diesem Spiel aus kennst.", war seine schlichte Anweisung gewesen, die er jedoch nie überprüfte. Insgeheim vermutete Anna, dass seine Fähigkeiten in diesem Spiel nicht besonders hoch ausgeprägt waren, wagte dies jedoch nie zu äußern.. Nun, ob sie bei den Herren bestehen konnte? Leichte Zweifel nagten an ihr. In dem Spiel fehlte ihr die Übung, auch wenn die Theorie ihr geläufig war.

Nun, zu nächst bekam die Gemeinde eine Antwort, der unterschreibende wurde von Anna in der Begrüßung persönlich angesprochen.

"Leider erwartet mein Arbeitgeber von mir auch an den Wochenenden über Tag häufig Verfügbarkeit, so dass ich nur in den Abendstunden frei verfügbare Zeit habe. Bei ihrer Internetpräsenz habe ich gesehen, dass sie nur selten zu besonderen Feiertagen wie Ostern späte Gottesdienste abhalten. Das werde ich mir vor merken. Falls sie eine Veranstalltung zum geselligen Zusammensein haben, die auch nach 22 Uhr Uhr noch beisammen ist, würde ich mich über eine Nachricht freuen. Auf Grund des saisonal abhängigen Geschäftes wird es mir im Winter eher möglich sein, einmal einen ihrer Nachmittagsgottesdienste zu besuchen.

Mit freundlichen Grüßen

Lisa Reeben"
Ähhhh.. jaaaa.. aber nur ganz, ganz vorsichtig und wenn sie den Prediger vorher kennen gelernt hatte. Auf eine böse Überraschung hatte Anna keine Lust. Die Lithurgie eines waren Gläbigen konnte... schmerzlich sein.

Als sie etwas mehr Zeit abknapsen konnte, ging sie dem Kulturverein, so früh am Abend, wie es ihr eben noch möglich war. Ihr Outfit war streng konserativ, auch wenn es wahrscheinlich overdressed war. Besser so als anders herum. Immerhin konnte sie angeben direkt von der Arbeit zu kommen. Von außen sah sie zu nächst durch das Fenster. Es half alles nichts. So fern sie nichts sah, was ihr Misstrauen weckte, würde sie sich ein Herz fassen und einkehren mit einem 'Guten Abend' in russisch auf den Lippen. Es klang wie dobri wjetschur.
 
Der Raum war klein, hatte etwas von einer Wartehalle, mehrere kleine Klapptische standen im Raum an denen meist Schachspieler mit dem ein oder anderen Kiebitz saßen. An den Wänden hingen Bilder aus der Heimat, meistens Naturaufnahmen die die Weite des russischen Landes widerspiegelten und das Bild eines einzelnen kleinen Madonnenbildes, ein Photo einer Ikone wie sie in orthodoxen Glaubensgemeinschaften verehrt wurde. Die Theke war handgezimmert und aus schwerem, dunklen Holz. Hinter dem Tresen standenen viele Flaschen ohne Ettikett mit einer glasklaren Flüssigkeit gefüllt im Regal, eine Zapfanlage für deutsches Bier und ein betagter Samovar rundeten das Bild ab. Den Raum durchzog der würzige und zugleich schwere Geruch von Tabak, die Qualmwolke hing wie eine Glocke über dem Saal. In einer Ecke des Raumes thronte über allem eine Büste des Genossen Lenin die gleichsam streng als auch väterlich auf die Mitglieder hinabzublicken schien.
Hinter dem Tresen stand ein großer, eher grob wirkender Mann mit blauen Augen, eisgrauem Haar, von Furchen durchzogenem Gesicht und einer von roten Äderchen gesprenkelten Nase. Die Hände, man mochte sie gleichsam auch Pranken nennen polierten ein Glas. Anna bemerkte neben dem abschätzenden Blick des Barmannes das sie nicht nur overdressed sondern auch die einzige Frau im Raum war.
 
Es wäre gelogen, wenn Anna sagen würde, sie fühle sich wohl mit der Situation. Ein paar Frauen mehr in der Runde wären ihr angenehm gewesen, aber hey, ihr Clan war selbst ziemlich von Männern dominiert. Sie wollte den Herren hier nichts böses, nicht einmal ihr Blut. Das schlimmste, was ihr hier vermutlich geschah war ein mehr oder weniger freundliches 'verpiss dich' Nach einem kurzen, schweifenden Blick durch die Runde, ging sie auf den Mann an der Theke zu. Weniger formelle Kleidung hätte ihre Situation hier wohl nicht sonderlich verbessert, ein all zu aufreizendes sie sogar eher verschlechtert.

„Guten Abend,“ grüßte sie den Mann auf russisch und den nächsten Worten merkte man wohl ihren Akzent an und dass sie die Sprache erst lernte. Immerhin konnte man ihr zu Gute halten, dass die Frau sich bemühte. Den Satz hatte sie sich vorher zu recht gelegt.„Ich habe mich gefragt, ob dieser Ort der rechte wäre, um mir ein paar Lektionen in ihrer Sprache und im Schach zu bekommen.“, sprach sie dann doch recht frei heraus, was ihr Ansinnen war.
 
Der Kerl betrachtete Anna von oben bis unten und polierte dabei weiter das Glas das er in der Hand hielt. Na einigen quälenden Sekunden geruhte der Mann zu antworten. "Das ist keine Schule für Sprachen und die Männer hier sind in ihrer Freizeithier, das sind keine Lehrer. Wer schickt Dich?"
 
Nach der Frage des Mannes sah Anna selbst erst mal an sich herab. „Sie haben schon recht, ich falle hier auf wie ein bunter Hund.“ Es war zwar nicht nur direkt die Klamotte, in der Anna steckte, aber hey, vielleicht lockerte es den Mann etwas auf und minderte die Abfuhr. „Ich fürchte, mich schickt niemand. Bin von allein auf die Idee gekommen, hier her zu kommen.“... Tja.. niemand, den sie als Reputation nennen konnte. „Mein Vater mochte Schach. Ich konnte von ihm nicht mehr als die Grundlagen lernen.“ Mit einem leichten Schulterzucken wischte Anna die Bemerkung weg. „Lehrer für die Sprache habe ich schon über den Fernunterricht. Was mir fehlt, ist die lebendige, gesprochene Sprache und hier.... es schien mir noch eine gute Idee, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Nichts für Ungut.“, entschuldigte sie sich quasi für ihre Aufdringlichkeit, da das Unwillkommen doch dezent spürbar war.
 
Ein alter Russe mit Bart, in sauberer aber abgetragener Kleidung irgendwo im Alter zwischen 50 und 80 Jahren wandte sich zur Theke. Er hatte seit Annas Eintreten allein über einem Schachbrett gebrütet. "Aljoscha, was redest Du nur? Das Mädchen bekommt noch den Eindruck wir wären eigenbrötlerisch und wenig gastfreundlich. Kommen Sie meine Liebe, leisten Sie einem alten Mann Gesellschaft" lud er Anna ein.
 
Anna nickte Aloscha freundlich zu, bevor sie sich zu dem Alten umwandte. Ohne Zögern ging sie zu dem Tisch des Mannes. Ein unter Umständen etwas zaghaftes Lächeln versuchte dabei, sich auf ihre Lippen zu schummeln. "Vielen Dank, das tue ich gern.", antwortete Anna dem Mann auf seine Einladung und reichte dem Mann ihre Hand. Ein wenig Restwärme war noch in ihr von dem Taschenwärmer, den die Rechte noch ausserhalb des Vereins umschlossen hatte. Sie musste ja nicht gleich als Kaltpfote auffallen. "Lisa Reeben. Ich freue mich, sie kennen zu lernen." In diesem Punkt war Anna auch ohne ihre vampirsche Erziehung ein gutes Stück weit alte Schule. Ohne weiteres käme sie nie auf den Gedanken, einen älteren zu duzen. Das war schlicht unhöflich. Gleichzeitig enthielt ihre Vorstellung durchaus die Andeutung des entsprechenden Angebots, wenn dem Älteren danach war. Wie schon im Kino benutzte Anna in der menschlichen Welt ihren zweiten Vornamen. Es war auch der, der in ihren aktuellen Papieren Verwendung fand. Gegenüber von dem deutlich freundlicheren Alten setzte sich Anna an seinen Tisch. Wenn das Brett vor dem Mann nur in der Startaufstellung stand, erhielt es lediglich einen kurzen Blick. Waren die Figuren darauf jedoch bereits verschoben, würde Anna wenigstens versuchen darin etwas zu erkennen und sie zu deuten.
 
"Lisa...eine kurzform von Elzbieta...ich kannte eine Elzbieta damals in Minsk...schönes Mädchen..." der Alte lies offen ob er seine Bekannte oder Anna damit meinte. Die Hände des Alten waren nikotingelb und sein Gebiss eine Art Minenfeld, die zahnmedizinische Versorgung in der ehemaligen Sowjetunion hatte nun mal zu Wünschen übrig gelassen. Ein kalter Tee stand neben dem Schachbrett auf das der Mann so lange intensiv gestarrt hatte. "Sie haben Russisch in Schule gelernt oder wo sonst? Ach entschuldigen Sie, meine Manieren werden im Alter immer schlechter. Ich bin Piotr Iljitsch Kameniev."
 
"Nun, dann hoffe ich, ich kann dem Namen ein paar weitere angenehme Erinnerungen hinzufügen.", erwiderte Anna höflich. "In der Schule hatte ich andere Sprachen, aber sie sind irgend wie meine Passion. Ich habe einen Fernkurs belegt, nur bringen einen schieres Vokakabel- und Grammtik lernen auf die Dauer nicht weiter und auch Fernsehen, Lieder und Vorträge haben ihre Grenzen. Ich fürchte, man hört mir an, dass mir die Übung im Sprechen fehlt. Leider lässt mir meine Arbeit keine Zeit für einen normalen Kurs. So kann ich immerhin die Zeiten flexibel gestalten, in denen ich in Bereitschaft bleiben soll. Aber... wenn ich das so direkt sagen darf, ich finde sie sehr zuvorkommend. Danke, dass Sie Erbarmen mit mir jungem Ding haben. Darf ich mit einem Tee oder etwas anderem revangieren?" Weder an den Händen noch an den Zähnen störte sich Anna. Gerade unter den Alten gab es immer noch viele, die der modernen Medizin nicht vertrauten und noch wieder anderen war es gänzlich zu Wider auf etwas zurück zu greifen, was sie als Almosen empfanden. Es vetrug sich nicht mit ihrem Stolz und Selbstverständnis. "Stammen Sie denn aus Minsk?", hakte Anna bei den wenigen Informationen ein, die sie hatte. Gern wollte sie den Mann reden hören und ein wenig in Redefluß bringen.
 
"Nein, nein, Sie sprechen gut für jemanden der aus einer anderen Kultur kommt..." Piotr Illjitsch warf einen kritischen Blick auf den kalten Tee und dann zu Aljoscha. "Aber sie haben Recht, jede Sprache hat eine eigene Seele und die lernt man nicht aus Büchern sondern nur wenn man mit den Meschen die die Sprache sprechen und prägen Umgang hat und die Sprache erlebt. Aljoscha, was muss man in diesem Laden tun um nicht zu verdursten? Aber apropos Seele Frau Lisa, haben Sie unsere großen Dichter gelesen, Tolstoi, Dostojewski, kennen Sie die Schriften Lenins? Sie sollten all das im Original lesen, sie sollten mit uns tanzen und singen, dann bekommen Sie Zugriff auf die russische Seele und die Russen haben viel Seele." Der alte Mann lachte und nahm von Aljoscha eine neue Teetasse entgegen...alle anderen Clubbesucher holten sich ihre Getränke an der Theke fiel der Tremere auf.
 
„Ah, wer kennt nicht Anna Karenina oder Krieg und Frieden? Persönlich hat mich 'Der Tod des Iwan Iljitsch' angesprochen aber auch Tolstois Kindergeschichten mochte ich sehr. Nach den ersten Grundlagen in ihrer Sprache, habe ich mit ihnen begonnen, Piotr.“

Ob Anna den Umstand bemerkte, dass er als einziger bedient wurde, war wohl nicht zu erkennen. Wenigstens schien sie keine Verwunderung darüber zu zeigen. Letztendlich war eines von Dreierlei wahrscheinlich: Der Alte sollte nicht vor der Fremden brüskiert werden, er hatte ein Gebrechen oder – dies war Annas favorisierte Erklärung, da ein Gebrechen zu mindest nicht offensichtlich war – der Mann genoß entgegen des Eindrucks, den seine oberflächlich äußerliche Erscheinung machte einen höheren Respekt als die anderen Gäste, wenn nicht gar einen hohen. Zu dieser Theorie passte es, dass er es gewesen war, der sie eingeladen hatte und nicht ein anderer. Wenn dem so war, würde sein Eindruck und sein Wille entscheiden ob Anna hier oder in anderen Teilen der Gemeinde willkommen war. Nicht umsonst erwähnte Anna nach seinen Ausführungen zur Seele die Kinderbücher Tolstois und das Werk über Iljitsch. Kinder waren stets das wertvollste eines Volkes, seine Seele, sein Reichtum und bei Iljitsch ging es grob zusammen gefasst um den Sinn des Lebens.

„Schuld und Sühne, die Dämonen... selbstverständlich. Ich frage mich immer noch, ob Dostojewski mit dem Titel 'der Idiot' nicht doch sich selbst und seine Spielsucht meinte in etwas selbstironischer Weise. Immerhin könnte man fast meinen, er sei vor seinen Schulden geflohen, als er dieses Werk schrieb. Dennoch, die Art und Weise, wie er die verschiedenen Literaturstile mischte und zu etwas eigenem kreierte, ist beeindruckend. Lenin... er ging mir nicht so nah, von ihm habe ich nur wenig gelesen. Aber auch Puschkin, Gogol, Gorki und andere russische Schriftsteller sind mir keine Unbekannten. Die Märchen ihres Volkes sind mir schon als Kind ans Herz gewachsen, damals natürlich noch in der deutschen Übersetzung. Es war wohl das Buch, was ich am häufigsten immer wieder zur Hand nahm. Die 'magischen' Märchen hatten es mir mehr angetan als die Fabeln und anderen.

Mit Ihnen singen und tanzen, es wäre mir eine Freude. Ich sollte an dieser Stelle gestehen: Meine Arbeit ist Fluch und Segen zu gleich. Ich arbeite für eine Art Verbund privater Bibliotheken. Aktuell bin ich hier in Finstertal so etwas wie der 'personal assistent' der Geschäftsführung, was nur eine bessere Bezeichnung für' Mädchen für alles' ist“ Den letzten Ausdruck sagte sie auf deutsch, weil sie sich einer korrekten Übersetzung alles andere als sicher war, war es doch im Deutschen eher ein geflügeltes Wort. Generell floss das eine oder andere Mal ein deutsches Wort ein, bei dem, wie sie sprach. Zum Glück war ihr Gegenüber ja auch dieser Sprache wahrscheinlich einigermaßen mächtig und der Redefluss war so zwar vielleicht weniger korrekt, kam jedoch flüssiger von den Lippen. Zugleich bot ihre rudimentäre Jobbeschreibung eine Erklärung, warum sie sich auch in russischer Literatur einigermaßen aus zu kennen schien. „Im Sommer sind sie immer besonders schlimm. Ich habe den Eindruck, sie stehen mit den Vögeln auf und gehen mit ihnen zu Bett. Im Winter ist es meistens etwas ruhiger und ich habe etwas mehr Zeit für mich, während ich jetzt... nun, von meiner Schlafenszeit stehle. Zum Glück bin ich noch jung genug um nicht all zu viel davon zu benötigen. Ich habe schon eine Einladung von ihrer Gemeinde für den Sonntag erhalten. Der eine Teil meiner Vorgesetzten wird mich nicht frei stellen. Er könnte mich ja für eine Übersetzung oder etwas ähnliches brauchen. Ich muss mich leider verfügbar halten. In Hamburg war es ruhiger. Da war meine Aufgabe klarer. Abschriften und Übersetzungen und nicht 'Mädchen für alles'. Ich muss gestehen, ich mag die Abwechslung hier in Finstertal.“ Anna pausierte kurz in ihrem Redefluß und ihr Kopf kam in eine leichte Schräglage, bevor sie weiter sprach. „Für eine Frau habe ich mir hier genau den richtigen Ort ausgesucht, hmmh?“
 
"Die Frauen kümmern sich um Heim und Herd, mit ihnen verkehren die Männer in den eigenen vier Wänden. Es ist wichtig das die Kinder beaufsichtigt werden und das Haus auch in Ordnung gehalten wird. Die Männer treffen sich nach dem Tagwerk mit dem sie das Essen auf den Tisch bringen unter sich und kommen danach zufrieden nach Hause nachdem sie sich nach der Arbeit mit Freunden entspannt haben...das ist Teil der häuslichen Ordnung und hält die Familie zusammen . So wissen die Eheleute was ihre Pflichten sind und können die Freuden ihrer Ehe geniessen und würdigen...Warum ist eine schöne junge Frau wie Du nicht verheiratet und hast Kinder Elzbieta? Und dann kleidest Du Dich wie ein Mann der seinen Lebensunterhalt in einer Bank damit verdient arbeitende Männer um ihre sauer verdienten Rubel zu bringen. Du lebst zwischen staubigen Büchern und noch staubigeren Vorgesetzten und verpasst Dein Leben und wofür? Es ist der Sinn des Lebens einer Frau sich einen Mann zu nehmen und ihm Kinder zu gebähren."
Während seiner Ausführungen begann Kameniev das Schachspiel neu aufzubauen, er versteckte einen Bauer beider Farben in seinen Händen und streckte diese geschlossen Anna entgegen. "Schwarz oder Weiss?"
 
Während der alte Mann redete, wanderte Annas Hand schützend auf ihren Unterbauch. Als er zu seiner Frage ansetzte, schlossen sich dazu noch ihre Augen. Erst seine Frage nach schwarz und weiss brachte Anna nach einem kurzen Moment dazu, tief ein zu atmen und sie wieder zu öffnen, seinem Blick direkt zu begegnen. Dieses Mal waren ihre ersten Worte sehr leise. „Diese Hoffnung habe ich nicht mehr, Pjotr. Keine Magie, keine Queste kann sie mir wieder zurück bringen.“ Es war wohl kein Thema für ein erstes kennen lernen und wenn, war es etwas, was man eher unter Frauen besprach. Doch er würde ihr Stocken bemerkt haben und hatte dafür erklärende Worte verdient. Und Anna... nun... wenn sich hieraus mehr entwickelte und sie noch das eine oder andere Mal zu Gast war, so hatte sie keinen Sinn für einen ernsthaften Bewerber. Wer wusste schon, welchen Sohn oder Enkel Pjotr sonst unter Umständen ausgraben würde, wenn er sich dazu entschied sie zu mögen. Dieses 'Geständnis' sollte ihr diejenigen vom Hals halten, die mehr wollten als ein wenig Spaß. Anna sprach mit der endgültigen Gewissheit, die unfruchtbaren Frauen ohne Hoffnung zu eigen ist und denen es vorher nicht vergönnt war ein Leben auf die Welt zu bringen.

Ihre Rechte verließ den Platz an ihrem Bauch um sanft auf seine Linke zu tippen. Wieder in normaler Lautstärke und fast leicht hin sagte sie: „Ah, ein Mann wäre schlecht mit mir beraten. Maria würde mich mit einem Nudelholz aus der Küche jagen, wenn ich mich dort hinein wagte. Meine Kochkünste kann ich niemanden zu muten. Meine Nase steckt fast die ganze Zeit in irgend welchen Büchern um meinen Verstand zu füttern. Ich würde ja gern sagen, ich sei mit einem wachen Geist gesegnet, der mehr braucht als einen Herd und ein Heim, doch ich glaube, ich warte lieber erst Mal das Ende dieser Partie ab.“

Kümmerten die anderen sich eigentlich mehr um sich selbst oder schienen sie zu mindest nebenbei darauf zu achten, was an ihrem Tisch vor sich ging? Annas Blick schwiff kurz ab. So wenige Worte sie auch gesprochen hatte, vielleicht weckten sie auch etwas Verständnis dafür, dass diese junge Frau sich so mit Arbeit dicht packte.

"Und die Kleidung... Nun, Arbeitkleidung, fürchte ich. Ich wusste nicht, was hier angemessen und ich habe noch nicht mein gesamtes Gepäck hier." Noch eine Kleinigkeit, um die sich Anna kümmern musste. Ihre Sachen waren in Hamburg noch eingelagert und warteten auf den Transport nach Finstertal.
 
"Ja, gut, wenn es nicht geht gibt es andere Arten eine Familie zu gründen, es gibt viele kleine Babuschkas die keine Eltern haben und sich über ein Heim und liebevolle Eltern freuen würden...man kann ein Kind auch lieben wenn es nicht sein eigen Fleisch und Blut ist. Aber es muss der Lebensmittelpunkt einer Familei sein und dafür fehlt Dir der paasende Mann und wenn das die Garderobe ist die Du automatisch auswählst wenn Du nicht weisst wie Du Dich kleiden sollst...naja, dann gute Nacht Denk daran, Frauen sind besser schön als intelligent, denn wir Männer können besser gucken als denken".
Piotr Illjitsch wirkte bei dem Gesagten nicht bösartig, eher wie ein Großvater der seine Enkelin darüber aufklärte wie die Welt war. Als Anna eine Hand gewählt hatte öffnete er sie und hielt ihr den weißen Bauer hin. Dann drehte er das Schachbrett so das die weißen Figuren vor Anna standen. "Du beginnst!"
 
"Erst mal etwas da haben, aus dem ich auswählen könnte. Wie gesagt ist der Großteil meiner Sachen noch nicht mal in Finstertal. Was diesen Punkt angeht, kann ich wohl Besserung geloben. Ja, es gibt viele Kinder, die eine Familie bräuchten aber in diesem Land hier? Selbst für Ehepaare gibt es sehr lange Wartelisten und vage Hoffnung. Das ist nichts für mich. Da richte ich mich lieber in meinem Leben ein und habe später vielleicht einmal das Glück, von meinem Wissen weiter geben zu dürfen. Ich konzentriere mich lieber auf die Dinge, die ich aus eigener Leistung schaffen kann und mache mich nicht gern von anderen abhängig, was mein persönliches Leben betrifft." Anna wählte als erstes einen sehr klassischen Zug, weil sie gern etwas über die Spielweise des Alten erfahren wollte, ohne dass ihm sämtliche Wege offen standen. So wandterte ihr Bauer von e2 auf e4 um ihrem Läufer Platz zu schaffen. Sie war gespannt, ob Pjotr sich für ein offenes oder halb offenes Spiel entschied.

"Darf ich fragen, wie viele Enkel sie schon ihr eigen nennen?"
 
"Das ist anderswo nicht so und wenn ma die richtigen Freunde und Verbindungen hat..." Den Zug Annas konterte der Alte mit der sizialianischen Verteidigung, er mochte es eher kompliziert und entwickelte eine eher verklausulierte und engmaschige Strategie.
 
"Nun, diese Freunde und Verbindungen habe ich nicht...", antwortete Anna auf das verdeckte Angebot. Selbst wenn er damit andeutete, er könne diese Verbindung und dieser Freund sein, war es viel zu früh um über so etwas intensiver zu sprechen. Mal abgesehen von dem kleinen Umstand, dass ein Kind in Annas Leben.... dezent schwierig wäre. Mit einem Ghul an ihrer Seite ginge es vielleicht, aber es wäre Wahnsinn. Sie hätte nicht die Möglichkeiten so ein Kind zu schützen. Und was sollte sie dem Kind sagen, wenn es älter wurde und begriff, dass seine 'Mutter' nicht alterte? Äh... nein... lieber nicht. "Ich weiss auch nicht, ob ich wieder die Kraft und die Stärke aufbringen würde zu hoffen. Ich habe mich derzeit recht gut arrangiert. Sollte ich je auf die richtigen Verbindungen treffen und einen Mann dazu finden, mit dem ich mir dieses Abenteuer vorstellen kann, werde ich noch einmal darüber nachdenken." Sie brauchte wohl kaum erwähnen, dass sie sich nicht aktiv auf der Suche nach einem Lebensgefährten befand. Das hatte schon die Schilderung ihres Lebensstils zur Genüge deutlich gemacht, auch wen ein paar Details darin ein wenig maskeradetauglich angepasst waren.

Vier Spielzüge weiter landeten sie auch in der klassischen Stelle der sizilianischen Verteidigung. Anna versuchte zwar, dem Alten nicht die Initiative im Dameflügel nicht vollständig zu überlassen, griff aber letztendlich über den Königsfügel und das Zentrum an. Anna wehrte sich in der Partie nach bestem Gewissen und Können und blieb dabei auch nicht in der schieren Reaktion, sondern versuchte auch selbst den einen oder anderen Angriff um das Spiel zu ihren Gunsten wenden. Der Alte war wesentlich erfahrener als sie in dem Spiel, die die Regeln kannte, einige Bücher gelesen hatte, als Kind gespielt und später versucht hatte über Computergegner zu mindest einen Grundstock auf zu bauen. Nicht immer spielte sie rasch und zügig. Es gab die eine oder andere Stelle, über die sie nach dachte und versuchte einen Lösungsweg zu finden, etwas anders zu spielen, als er es vielleicht von ihr erwartete. Insgesamt spielte sie in stiller und ruhiger Konzentration

Ungefähr drei bis fünf Züge vor dem endgültigen Matt legte Anna sanft ihren König um. Sie sah keine Möglichkeit mehr, wie sie ihn befreien konnte, allerhöchstens konnte sie das Matt noch etwas heraus zögern. Sie hatte die vage Befürchtung, ein leichter Gegner für ihn gewesen zu sein. "Vielen Dank für das Spiel. Ich fürchte, ich war wehrlos ihnen gegenüber."
 
Anna spielte gegen einen ungwöhnlichen Spieler. Er hätte manchem Großmeister Kopfschmerzen bereitet. Kameniev opferte, als das Spiel festgefahren auf Remis stand, im Mittelspiel Qualität für Tempo und trieb danach Annas eher klassische Verteidigung vor sich her bis ihre Verteidigung einbrach und seine Bauern ihren Turm frassen. Anna hatte Recht, es war nur eine Frage der Zeit und Kameniev akzeptierte die Aufgabe nickend als einzige logische reaktion auf die Stellung.

"Nun, vielleicht lernen Sie ja irgendwann die passenden Freunde kennen..."
 
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