Anonyme Postspieler

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23. Februar 2003
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Hallo, ich bin blut_und_glas und ich bin Postspieler...

Seit..., ach ich weiss es nicht mehr genau, zehn Jahren mindestens kritzele ich mit abwaschbaren Folienmarkern Pfeile und Symbole auf handgemalte Hexfeldkarten, fülle Listen aus, beobachte Truppenbewegungen und berechne Staatsschätze. Für die "modernen" Ausprägungen - die mittlerweile ja auch wieder irgendwie altbacken sind - des Genres, Spiel per Email, Forum, Internet konnte ich mich nie begeistern, selbst wenn die Wartezeit mit der Schneckenpost gar zu lang wird, der nächste Zug mit einem Monat Verspätung eintrifft und die Koordination nicht recht klappt, weil der Bündnispartner seinen eigenen Umschlag schon längst wieder auf den Weg geschickt hat, der im Vergleich dazu unendlich grossen Hektik des Online Spielens kann ich nichts abgewinnen. Darüber trösten auch höherer Komfort, die Möglichkeit zu ausgeklügelteren Systemen und die grössere Anzahl an Mitspielern - vielleicht der eigentliche Witz am Postspiel - mich nicht hinweg. Nein, es muss schon echtes Papier in einem echten Briefumschlag samt Briefmarke darauf sein.

Weshalb schreibe ich das Ganze jetzt aber? Einmal natürlich um diesem altehrwürdigen Hobby einen eigenen Thread zu widmen, dann aber auch noch aus einem konkreteren Grund, einem etwas weniger erfreulichen. Mir macht das Spielen per Post Spass, so viel war vielleicht aus dem ersten Abschnitt schon zu ersehen. Es bereitet mir grosse Freude, und das seit vielen Jahren. Aber in letzter Zeit wird diese Freude leider auch immer wieder getrübt, ein Umstand der, denke ich, damit zusammenhängt, dass sich meine Sichtweise auf das Spiel (auch auf Spiele im Allgemeinen, aber das soll ja gar nicht das Thema sein...) im Laufe der Zeit geändert hat, und deshalb stehe ich hier jetzt in diesem virtuellen Versammlunsraum einer nicht vorhandenen Selbsthilfegruppe und tippe munter vor mich hin. Um mir den Frust von der Seele zu schreiben.
Ursprünglich konnte ich es gar nicht erwarten einen weiteren Umschlag aus der Post zu fischen. Da blieb erst einmal eine Menge anderes stehen und liegen, um Karten und Texte zu studieren, erste Ideen für meinen nächsten Spielzug zu entwickeln, und dann mit Stift und Taschenrechner und Regelwerk bewaffnet an die ernsthafte Ausarbeitung und Umsetzung der eigenen Strategie zu gehen. Dann galt es als nächstes natürlich diplomatische Post aufzusetzen, und per Telefon mit anderen Spielern zu konferieren, sich mit den Verbündeten aus der eigenen Umgebung zu treffen, Karten abzugleichen und mit wilder Begeisterung gemeinsame Welteroberungspläne zu schmieden.
Das war die erste Zeit.
Später hieß es dann sich mehr Zeit lassen, Probleme und Züge wurden schwieriger, und da konnte nicht mehr einfach drauflos geplant und gemacht werden, da hieß es dann langfristige Strategien entwickeln, über viele Züge, und Monate und Jahre in der realen Welt hinweg hinaus zu schauen. Also bedurfte es auch mehr Zeit für den einzelnen Zug, und die Pausen zwischen den einzelnen Zügen wurden nicht mehr mit ungeduldigem Warten verbracht, sondern boten willkommene Gelegenheit an den eigenen Langzeitplänen zu feilen, Verträge zu schließen, geheime Zusatzprotokolle aufzusetzen, sich zu beraten und zu intrigieren. Da wurden keine Schlachten mehr geschlagen (obwohl sie das natürlich immer noch wurden), da wurde der Untergang von Imperien besiegelt.
Aber auch das liegt mittlerweile weit hinter mir.
Heute schätze ich das Briefspiel, weil es eine ruhige und gemütliche Art ist, mich mit meinem "grossen" Hobby, dem phantastischen Spiel ganz Allgemein, auseinanderzusetzen. Ich weiss, wenn ich meine Papiere und Karten in der Post bekomme, dann kann ich sie auch erst einmal ein paar Tage oder auch eine Woche oder zwei bei Seite legen. Ich kann mich dann darum kümmern, wenn ich Zeit und Lust dazu habe, und ich kann mich darüber freuen, Namen und Zahlen und bunte Hexfelder zu betrachten, die für mich mindestens genauso sehr lieb gewonnene Erinnerungsstücke sind, wie handfestes Spielmaterial. Ich kann mich ganz in Ruhe mit alten Freunden treffen, die auch - noch oder wieder oder erst - spielen, und während man sich beim Essen über Gott und die Welt (und Conan Kurzgeschichten, Kino und Rollenspiele) unterhält, die Sprache auch auf den aktuellen Zug, oder den vom letzten Jahr, oder den, den man in zwei Jahren plant bringen, ohne das man zurück in den Übermut der Anfangszeit oder das spätere Intrigieren und Taktieren verfallen müsste.
Und genau da fängt mein Problem an, das mir diese schöne Freizeitbeschäftigung seit einiger Zeit so verleidet. Die Auseinandersetzung mit anderen Spielern, die diese ruhige Einstellung nicht teilen, und mit ihr vielleicht auch nichts anfangen können oder wollen. Dieses Problem ist zu einem guten Teil auch von mir selbst hausgemacht, das will ich gleich ohne Umschweife zugeben. Wo ich früher begeistert war mit anderen Spielern zu kommunizieren, mit Verbündeten zu planen, Gegner zu verhöhnen, Neutrale zu umgarnen, ist dies ja genau einer der Aspekte, für die ich heute nur noch wenig Energie aufbringe, ganz einfach weil es wie beschrieben nicht mehr das ist, was mir am Spielen Vergnügen bereitet. Wenn ich früher hoch erfreut war, irgendeinen mir fast Unbekannten am Telefon zu haben und über Heeresbewegungen und Grenzverläufe zu diskutieren, bin ich heute einfach nur noch entnervt, wenn schon wieder jemand meinen Anrufbeantworter zutextet, oder meine Mailbox mit Nachrichten traktiert, die ich - so spielpolitisch brisant ihr Inhalt auch sein mag - als Spam empfinde, der gerade einmal eine halbe Stufe von Viagra und Penisvergrösserungsangeboten entfernt ist. Das Ergebnis des Ganzen ist, dass ich meine Diplomatenpost meist gar nicht mehr öffne oder sie einem Freund mit den Worten in die Hand drücke "Da, lies du mal. Steht was wichtiges drin? Wurde mir der Krieg erklärt oder so?" und an antworten ist erst gar nicht zu denken. Ein stilles Grauen beschleicht mich regelmäßig ob der Aussicht, bei meinem nächsten Zug wieder derartig geplagt zu werden, und die ganze Sache ruiniert mir Entspannung und Gemütlichkeit, die ich doch so sehr am Spielen schätzen gelernt habe. Darüber hinaus wirkt sie sich natürlich auch nachteilig auf den Spielverlauf für mich aus, den wenn man sich von der diplomatischen Bühne verabschiedet, dann ist mit Abkommen und Verträgen und Vorwarnung vor Überfällen natürlich auch nicht mehr viel zu wollen. Das alles verstärkt aber nur die buchstäbliche Abneigung, die ich gegen dieses ganze Heckmeck hege, was von manch anderem Briefspieler veranstaltet wird. Ja, früher hat es mir Spass gemacht, sehr viel sogar, aber heute will ich einfach nicht mehr mit allen und jedem telefonieren, oder Emails oder echte Briefe wechseln oder mich gar, Gott behüte, mit einem Pfund Kartenmaterial unter dem Arm mit ihnen treffen, nur weil wir zufällig eine gemeinsame virtuelle Grenze haben. Ich will einfach nur ein Spiel spielen. Ganz in Ruhe.

mfG
bvh
 
AW: Anonyme Postspieler

Interessanter Beitrag! Habe noch nie von jemandem gelesen, der ein solches Spiel spielte.
Jedenfalls würde mich genau das nerven, was Dir im Augenblick passiert. Dadurch, dass Du postalische und telephonische Angaben machen musstest, wirst Du auch weiterhin vermutlich kontaktiert werden, bis Du Dich irgendwie abgemeldet hast oder bis der Punkt gekommen ist, an dem die Organisatoren den großen, roten Resetknopf drücken, wenn es ihn bei Briefspielen, wie bei Browsergames auch, geben sollte. Und es ist doch auf Dauer bestimmt teuer, oder? Ich meine, ein läppischer Brief kostet wohl nicht viel (oder sandtest Du auch stets umfangreiches Kartenmaterial zurück), aber so auf die Dauer mitsamt den Telephonkosten.
So sehr sich das Spiel an sich auch interessant anhört, scheint es mir mit enormem Aufwand verbunden zu sein, der sich sogar darin äußert, selbst dann noch behelligt zu werden, wenn man eigentlich kein Interesse mehr daran hat, wobei man bei einschlägigen Browsergames einfach jene Seite nicht mehr besucht. (Und klugerweise auch nicht die Primär-Emailadresse angegeben hat, sondern die für die Spams, etc.)

Ansonsten... öhm... ja... *tröst* ;)

Kleine Frage noch: Worum ging es in dem von Dir praktizierten Briefspiel genau? Führte jeder also ein Land bzw. ein Landstrich und versuchte es je nach Geschmack zu halten oder auszudehnen? Futuristisch, mittelalterlich, Gegenwart oder ein wildes Fantasygemisch?
 
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