[14-20.06.1990 & 30.04.2008] Die Brücken brechen - der Weg zurück ist verschlossen

Grinsekind

Antonin Philippe Tesnos
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22. Juni 2005
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Durch den Nebel sah man kaum etwas, doch das schien die Leute nicht daran zu hindern sich wild ins Getümmel zu stürzen. Letztendlich war es auch nicht wichtig, ob man dabei jemand anrempelte, ein Glas zu Bruch ging, oder man über die eigenen Füße stolperte. Jeder der Anwesenden schien ein Grinsen auf den Lippen zu haben und voller Liebe zu sein. Oder waren das nur die Drogen, die langsam im Kopf des jungen Mannes, der versuchte sich durch den Nebel zu kämpfen, zu wirken begannen? Ihm war das egal. Es war eine großartige Nacht. Er war nun seit einiger Zeit erfolgreicher Student. Nicht so sehr was das eigentliche studieren anging, wohl aber im Berreich der exzessiven Partys. In der Clique in der er sich meißtens befand war er der unangefochtene Partykönig. Nicht nur weil er Kontakte zu vielen DJs in der Gegend hatte, selbst auflegte und an jede erdenkliche Droge herankam, nein auch weil er es irgendwie schaffte das ganze völlig normal erscheinen zu lassen. Vielleicht war er einfach der geborene Partyhengst. Derjenige, der dafür sorgte, dass andere Menschen Spass hatten und daran wiederum seinen Spass hatte. Vielleicht sollte er das verdammte Studium hinschmeißen und einfach ins Eventmanagement einsteigen.

Er erfasste sein Ziel. Die junge Frau drehte sich zu ihm um und lächelte ihn strahlend an. Er grinste breit zurück. Mit Anna hatte der heutige Abend begonnen. Ein wenig X und sie waren bester Laune. Inzwischen war die Wirkung ein wenig zurückgegangen, aber trotzdem fühlte er sich noch in der Lage, alles um ihn herum zu lieben. Er hatte keine Ahnung, wann der Trip angefangen hatte. Hatte er jemals geendet? Soweit er bescheid wusste war er jetzt seit ungefähr 5 Tagen wach. Mochte sein Körper zwar hin und wieder ächzen, es gab für jedes Problem das richtige Mittelchen.
Das Grinsen wurde breiter als Anna, eine flüchtige Bekannte, ihm einen Joint hin hielt. Er hatte schon lange nicht mehr geraucht. Eine Droge die einen schläfrig machte, blöde in der Gegend herumstarren und irgendwann völlig inaktiv werden lies? Nicht sein Fall. Aber jetzt schien es perfekt. Nur ein bisschen ziehen und entspannen.

Dann war die Musik wieder das Zentrum des Interesses. Er schloss die Augen und genoss das Wummern der Boxen. Er fühlte, verdammt, er fühlte. Und das musste bedeuten das er lebte.

Seine Hand fuhr über die geschorene Stelle. Er sah hinein in den Spiegel und aus dem Spiegel sah er wieder hinaus. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Er war ernst. Es war ernst. Jetzt und hier war er und jetzt und hier würde es beginnen. Oder enden? Fabian wusste nicht mehr wo er herkam. Es spielte keine Rolle. Er spielte keine Rolle. Oder besser er spielte keine Rollen mehr. War es vielleicht so, dass er verrückt geworden war? Das seine soziopathische Ader sich in etwas völlig verdrehtes verwandelt hatte?
Hatten seine Mitmenschen denn nicht die Anzeichen gesehen? Hatten die Kainskinder nicht gerochen, das das Tier nicht das gefährlichste Monster war, das in ihm schlummerte?
Vielleicht war es ihnen egal? Wahrscheinlich war seine Maske immer zu gut gewesen. Trotz der diversen Ausfälle, die es gegeben hatte. Die protokiliert, festgestellt, geandet und zu den Akten gelegt
worden waren.

Hatte sich nie jemand gefragt warum all die Dinge die Fabian tat so offensichtlich zu durchschauen waren? Warum seine Pläne fehlschlugen? Warum er trotz dessen grinsend und Witze reißend durch die Nacht lief und doch immer wieder auf die Nase schlug? Wollte er eventuell ganz einfach erwischt werden?
Nicht einmal er hatte sich diese Fragen gestellt, also warum sollte jemand anderes danach fragen.
Seine Hand griff zu dem Rasierer, hielt ihn unter das Wasser und spühlte ihn kurz ab. Dannach ging die Klinge nach oben zum Kopf und langsam fuhr das Messer über die Haut, das tote Gewebe vom Schädel trennend. Die Haare fielen zu Boden oder blieben am Rasierer hängen. Immer wieder musste der Brujah dessen Klinge abspühlen. Abschließend strich er sich dann erneut über den Kopf.

Er kam zurück ins Esszimmer und rieb sich leicht die Nase. Seine Großeltern saßen auf der rustikalen Bank unter dem rustikalem Gemälde in dem rustikal eingerichteten Wohnzimmer. Er lebte schon lange nicht mehr hier. Trotzdem war es sein Zuhase. Er kannte alle Ecken und Kanten, hatte hier als kleiner Junge gespielt.
Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus und wurde kurz darauf zum Grinsen. Seine Mutter erzählte etwas von einer neuen Theateraufführung in dem Stadttheater. Der Großvater sah dement in die Kaffeetasse die vor ihm stand. Schon lange bekam er nichts mehr von seiner Umwelt mit. Fabians Vater war in der Küche und kochte eine seiner Lieblingsspeisen. Wenn ein Geburtstag anstand kochte er immer selbst, ansonsten übernahm dass das Personal. So war das eben als erfolgreicher Profikoch.
Später sollte noch Onkel Karl auftauchen. Ansonsten kannte niemand mehr den alten Mann, der wohl demnächst auch sterben würde. Krebs war diagnostiziert worden. Und plötzlich war die Familie wieder wichtig. Mutter war extra aus dem Urlaub in Spanien zurück gekehrt.

Fabian setzte sich und sah dem alten Mann ins Gesicht. Er sah eine Speichelansammlung im Mundwinkel und das Heben und Senken der Brust. Ansonsten schien eine Statue am Tisch zu sitzen. Großmutter hatte ihm eine Frage gestellt. Erneut schniefte er mit der Nase und begann sie zu reiben. Nein, er war nicht erkältet, vielleicht ein kurzer Sommerschnupfen. Das Grinsen wurde breiter, der Ton war etwas zu sarkastisch.
Seine Mutter indess hatte nicht aufgehört zu erzählen. Ihr war es gar nicht wichtig ob jemand zuhörte, es ging mehr darum die eigene Stimme zu hören. Inzwischen war sie natlos zu dem Schauspieler übergegangen, den sie in Spanien getroffen hatte. Die Großmutter mischte sich wieder ein und fragte ob es dieser oder jener gewesen sei. Mutter verneinte.
Fabian stand auf und ging von dem rustikalen Wohnzimmer durch einen kurzen Flur zu der eleganten und modernistischen Küche. Einen kurzen Blick auf seinen Vater richtend -der kurzbeinige Mann, dessen Haare langsam ausfielen, und der völlig vertieft in das herstellen eines seiner selbsterfundenen Gerichte war- und dann ging er durch die Terassentür nach draußen. Vielleicht würde er kurz in den Pool springen. Er fühlte sich frisch und aktiv.

Als er aufwachte konnte man immer noch Musik hören. Doch scheinbar waren die Boxen oder die Kabel inzwischen zerstört und somit endete das Ganze in einem nervenden Hintergrundrauschen. Der Boden war übersäht mit Glassplittern, Papierresten, einem zertrümmerten Stuhl und einigen Strohhalmen. Alles stank nach Schweiß, Zigaretten und künstlichem Nebel. Die Party schien vorrüber zu sein. Kurz mit den Augen blinzelnd überlegte sich Fabian ob er einfach weiterschlafen sollte oder ob es vielleicht doch klüger war diesen Ort zu verlassen, bevor man Verantwortung übernehmen musste. Am Ende wurde er noch dazu genötigt aufzuräumen. Und außerdem, wo war er eigentlich? Er konnte sich dunkel an Anna erinnern und dass sie irgendwann die eine Discothek verlassen hatten. Waren sie in einer anderen gelandet? War es noch die selbe Nacht? Welche Nacht war es überhaupt?

Langsam und vorsichtig stand der junge Mann auf und klopfte sich kurz die Kleidung ab. Sofort musste er sich an der Couch, auf der er gelegen hatte, abstüzen um nicht umzukippen. Verdammt, der Alkohol pumpte immer noch durch sein Blut. Dabei hatte er doch gestern gar nichts getrunken, oder etwa doch? Er konnte sich zumindest an nichts erinnern. Plötzlich meldeten seine Sinne, das etwas weiches und leicht liquides an seiner Hand war. Er blickte zur Couch und sah das er mit der abstüzenden Hand mitten in eine bräunlich-rote Flüssigkeit gegriffen war. Wohl Erbrochenes. Hatte er sich übergeben? Er fuhr sich mit der freien Hand über den Mund. Dort fand er keine Überreste irgendwelcher Nahrung. Wann hatte er überhaupt das letzte Mal gegessen?
Achtlos die Kotze an seinem T-Shirt abstreifend setzte er langsam Fuss vor Fuss und versuchte durch das Labyrinth ins Freie zu treten.

War es abzusehen gewesen? Vielleicht hatte es ja nie eine Indikation gegeben, die gezeigt hatte wohin er sich bewegte? Und gab es überhaupt einen Anfang? Wahrscheinlich war dies eine der Geschichten bei denen man im Nachhinein ganz klar sagen konnte, wo die Probleme waren und wie man mit ihnen umgehen hätte sollen. Er fand in seinem Gedächtnis jedenfalls keine dramatische Kindheitserinnerung, die dafür gesorgt hatte, das er sich so entwickelt hatte, wie er sich eben entwickelt hatte. Vielleicht war er einfach schon immer so gewesen und alles vorherige war lediglich ein verzweifelter Kampf gewesen, sich der Normalität anzupassen. Die Welt da draußen war so völlig falsch und anders als die Welt in seinem Kopf. Seine Realität und seine Massstäbe schienen völlig an dem vorbei zu gleiten, was allgemein als wahr, real und wirklich angesehen wurde.

Das hatte ihm allerdings auch schon immer eine gewisse Stärke verliehen. Hatte ihn andere Wege gehen lassen, hatte ihm Dinge gezeigt, die andere Menschen und Kainskinder nie erlebt hatten. Doch letztendlich hatte es zu dem geführt, was er heute vor sich hatte.
Den Bart würde er stehen lassen, vielleicht konnte er das als sein neues Markenzeichen etablieren. Der Kopf war inzwischen ganz geschoren und der Rasierer gesäubert. Fabian betrachtete sich im Spiegel. Er war sicher keine allzu große Leuchte und niemals hatte er sich für Psychologie interessiert. Doch er hatte -trotz seiner abweichenden Vorstellung der Welt- eine gute Menschenkenntnis. Und er wusste das er vor einem Problem stand. Er würde dieses Problem lösen.
Das Problem hieß Fabian. Es war nicht das Vampirdasein, der Sinn des Lebens oder gar die Camarilla. Ganz simpel und wie so oft in seinem Leben ging es lediglich um ihn und um nichts als ihn.
Er war gewesen. Doch das war nicht wichtig.
Er würde vielleicht nicht sein. Doch das war auch nicht wichtig.
Wichtig war, dass er jetzt in diesem Moment ist.
Er hatte gekämpft um die Maske abzulegen, die sein Äußeres erobert hatte. Und der Kampf war noch nicht vorbei. Die Maske die sein Inneres besessen hatte, hatte er ablegen können, auch wenn es lange gedauert hatte.

Onkel Karl war gekommen. Mit ihm unterhielt sich Fabian gerne. Er hatte das Gefühl, das der Mann mit der Halbglatze und den nach hinten zusammengebundenen Haaren, zuhörte. Das er nicht darüber urteilte, was Fabian sagte. Das alles was Fabian sagte ankam, aufgenommen und dann wieder freigelassen wurde. Vielleicht war dies der Vergangenheit Onkel Karls zuzuschreiben. Dieser hatte als Mann Mitte 20 direkt während der 68 in der fordersten Front gestanden, als gesellschaftliche Umwälzungen sich bemerkbar machten. Er hatte als junger Mann Reisen in die Welt unternommen. Menschen unterschiedlichen Schlags kennen gelernt. Versucht jede noch so obskure Idee zumindest zu tolerieren. Und vielleicht machte einen das offen. Viel erzählte Karl nicht von seiner Jugend, aber hin und wieder, nach einigen Gläsern Wein, lies er sich von seinem piesakendem Bruder dazu hinreißen, die ein oder andere Geschichte zu erzählen. Nicht nur hatte der Mann viel Welterfahrung, manches Mal schien es fast, als würde er andeuten wollen, das die Welt wesentlich mehr war, als sie schien. Das es Dinge gab, die im Verborgenen waren und die der Durschnittsmensch niemals zu Gesicht bekam, jemand mit offenen Augen und Ohren jedoch erschließen konnte.

Fabian erzählte ihm von seinen neuesten Erfolgen in der Frauenwelt und das er plante ein wenig ernsthafter an seinem Stand als DJ zu arbeiten. Vielleicht lag da sogar so etwas wie Zukunft vor ihm, wer wusste das schon?
Zwar wurde er dabei nicht von seinem Vater unterbrochen, aber an dessen Lächeln konnte Fabian sehen, das dieser die Pläne seines Sohnes für Unsinn hielt. Karl nickte lediglich. Letzendlich stand Fabian sowieso frei zu tun was er wollte. Sein Vater hielt sich mit seiner Meinung zurück und seine Mutter interessierte es sowieso nicht. Von daher war es eigentlich ziemlich egal, was Fabian tat und was er nicht tat.
Später würde es noch Kuchen geben. Dem Großvater musste man diesen einführen, denn schließlich sollte das Geburtstagskind auch etwas vom leckeren Kuchen haben.

Er ging nach draußen und kniff die Augen zusammen. Er stand in einer kleinen Seitengasse, die direkt an einem kleinen Bächlein lag, welches munter durch die Stadt plätscherte. Hinter ihm war eine ihm bekannte Discothek, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, gestern dort hingegangen zu sein. Das Personal schien verschwunden zu sein, zumindest hatte er niemand gesehen. Vielleicht war es auch eine selbstorganisierte Party gewesen. Vielleicht hatte er sie selbst auf die Beine gestellt? Das war jetzt nicht wichtig.

Fabian setzte sich auf einen der mosüberzogenen Steine und betrachtete das Licht, das langsam immer mehr wurde. Er liebte diese Situationen. Morgens, wenn noch kein Mensch unterwegs war, aus einer Discothek, nach einer völlig durchzechten Nacht -oder mehreren- nach draußen gehen und den Sonnenaufgang betrachten. Er sah in das gleisende Licht und das Grinsen, dass ihm auf dem Gesicht gestanden hatte, seit er sich von der Couch erhoben hatte, verlor sich. Das Gesicht des Mannes stellte plötzlich eine unheimliche Zufriedenheit dar. Keine verzogenen Mundwinkel oder ein spöttischen Glitzern in den Augen wie sonst. Lediglich ein friedlich dreinblickender junger Mann, der die Zukunft noch vor sich hatte.
 
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