[14.05.2008] Neue Richtung

Drakun

Pflanze
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9. Juni 2007
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Bahnhofsviertel, kurz nach Mitternacht - Geisterstunde. Pfingsten war vorbei, die Krankheitswelle war vorbei. Zurück zur Normalität. Erwartungsgemäß waren die Straßen nicht ganz leer. Mehr oder weniger vertrauenswürdige Gestalten, jung wie alt, trotteten herum, saßen in Ecken, allein oder in kleinen Grüppchen, laut wie leise. Nicht übermäßig bevölkert, aber Marta war nicht allein.

Nach dem Gespräch mit Johann war ihr nach frischer Luft gewesen, der Norden war ihr momentan nicht so recht, also hatte sie einfach die andere Richtung eingechlagen. Die Gegend war ihr noch relativ unbekannt und wahrscheinlich nicht ganz ungefährlich. Aber sie ja auch nicht... Das Kleid hatte sie selbstverständlich gegen ein weniger auffallendes Outfit getauscht. Unter der Jacke trug sie ein T-Shirt, die Füße steckten in Ballerinas, ihre Beine in einer pechschwarzen Strumpfhose. Ohne diese wäre der kurze Rock wohl aufreizend gewesen, so rundete er lediglich das Erscheinungsbild ab. Dabei hatte sie noch ihre Handtasche.

Momentan hatte sie kein bestimmtes Ziel. Der Dom... darauf hatte sie gerade keine Lust. Für einen Besuch im Industriegebiet war es wohl schon etwas spät. Außerdem hattest du schon genug Politik... Marta wechselte unauffällig die Straßenseite, als sich in einiger Entfernung eine zottelige Gestalt abzeichnete. Einfach mal sehen, was die Nacht noch bietet. Einige Teenager saßen herum, tranken, unterhielten sich und schienen keine Notiz vor ihr zu nehmen. Es gibt schönere Gegenden. Leise Bässe ertönten, wurden lauter, Scheinwerfer beleuchteten die Straße. Wenigstens keine huschenden Schatten mehr. Ein alter BMW fuhr vorbei, beschallte mit offenem Fenster die Gegend, bog dann in eine Seitenstraße. Zurück blieb ein Zigarettenstummel, von dem letzter Rauch aufstieg.
 
Martas Weg führte sie weiter, vorbei am Industriegebiet, schließlich zu einer Brücke, von wo man einen guten Teil der Stadt überblicken konnte. Unter ihr verliefen Gleise, die letztendlich im Bahnhof münden würden. Auf der anderen Seite zeichneten sich klobige Wohnblöcke ab. Das ist also der Schwarze Kamp... Eines der Gleise zweigte, vom Hauptbahnhof kommend, nach Süden ab und verschwand rechts unter einer weiteren Bahnbrücke. Menschen konnte sie von hier aus nicht entdecken.

Sie trat auf die Brücke, ließ den Blick schweifen. Ob es hier immer so düster wirkt? In der Ferne war das Licht eines Fahrzeuges zu erkennen, nur kurz, dann war auch dieses Lebenszeichen wieder verschwunden. Sie lief weiter, ihre Schuhe verursachten kaum Geräusche, doch in der Stille wirkten die Schritte lauter. Als würde die Straße jegliches Geräusch zehnfach zurückwerfen. Hinter ihr durchschnitt ein kräftiges Heulen die Nacht. Dröhnend schoss ein Motorrad vorbei, erreichte in Rekordzeit das andere Ende der Brücke und bog ohne langsamer zu werden ist östliche Richtung ab. Eine ganze Weile später hatte auch die junge Frau diese Stelle erreicht. Vor ihr erhob sich einer der Betonkolosse. Hässlich... aber zweckmäßig.
 
Es war nur in wenigen Fenstern Licht, wenn sie sich so die Plattenbauten ansah, die meisten waren wohl schon zu Bett, besonders dann, wenn sie nicht zu dem Heer, der arbeitslosen gehörten, die sich längst in ihr Dasein gefügt hatten und von daher jetzt wohl eher ihr Hartz-IV Geld durchbrachten.
Was für eine trostlose Gegend. In der Ferne fiel ihr ein Spielplatz auf und von dort hörte sie das sehr leise Klicken, das sich anhörte, als stießen welche mit Bierflaschen an.
 
Da ist wohl noch jemand wach? Lebenszeichen waren jedoch mit Vorsicht zu genießen, besonders in solchen Gegenden. Trotzdem schlug sie diese Richtung ein, wohl mehr aus Neugier als Geselligkeit. Vielleicht war es auch der Jagdinstinkt, der sie in der Stille zu potentieller Beute zog. Wie eine Katze, die einer Bewegung im Gras nachging.
 
Ja, es war noch jemand wach und als Marta näherkam, sah sie dann ein halbes dutzen junger Männer, etwas verwahrlost und alle wohl so zwischen 18 und 23 Jahren. Sie waren eindeutig eher türkischer oder arabischer Herkunft, wie man ander Sprache feststellen konnte und jeder von ihnen hielt eine mehr oder weniger gefüllte Bierflasche in der Hand.
 
Während sie an dem Spielplatz vorbei lief, musterte sie die Gruppe unauffällig. Jung? Gut! Männlich? Gut. Etwas verwahrlost? Nicht so gut. Ein ganzes Rudel? Ungünstig. Hoffen wir mal, dass ihr nicht schon zu viel getankt habt... Die Gruppe war potentiell nicht ganz ungefährlich, auch für eine Vampirin. Wenn sie hier etwas ausrichten wollte, musste sie ein Opfer von der Gruppe trennen. Der damit verbundene Aufwand, die Tatsache, dass sie auf fremden Terrain war, und die Qualität der Beute, machten ein solches Manöver aber eher unattraktiv. Auf der anderen Seite... Ja, sie wollte trinken, doch sie Situation war etwas zu riskant, vor allem nach der dummen Aktion von gestern. Es gab bestimmt bessere Gelegenheiten. Auch heute? Willst du hungrig ins Bett gehen? Im Zweifelsfall war das besser, als von den Revierinhabern - wenn sie sich richtig erinnerte, waren das hier die Hexer - erwischt zu werden. Das eine Mal wird es wohl keiner mitbekommen, oder?

Marta traf eine Entscheidung, auch wenn ihre Gedanken rebellierten. Zu riskant! Sie hielt ihren Abstand zur Gruppe, scheinbar unbeteiligt, doch aufmerksam genug um auf eine eventuelle Änderung im Verhalten reagieren zu können. Ein Raubtier schlich um seine ahnunglose Beute. Und setzte seinen Weg unverrichteter Dinge fort. Heute nicht. Die Gefahren waren zu groß, der Gewinn zu klein. Marta würde sich wohl nach leichterer Beute umsehen müssen.
 
Nun, wenn Marta weiterging würde sie auch noch an einem schmuddeligen kleinen Nachtcafe und einem Imbiss vorbeikommen, der die ganze Nacht offen hatte, wenn dort ein Lieferauto davor stand, könnte es ja gut möglich sein, daß der Fahrer, ein junger, recht gut aussehender Italiener, auf eine Lieferung für einen Kunden wartete.
 
Ein Essenslieferant? Wenn der Herr im Dienst war, konnte das ungünstig ausgehen. Wartende Beute bedeutete eine höhere Wahrscheinlichkeit gestört zu werden. Im Normalfall war es vorteilhaft auf den Abschluss des Treffens zu warten. Das kann aber ewig dauern... Das war hier nicht die Gegend für eine langfristige Jagd. Eigentlich ist das für dich überhaupt keine Gegend für eine Jagd...

Auf der anderen Seite hatte es einen besonderen Reiz. Du spielst mit deinem Leben... Aber der Herr sah schon ganz lecker aus. Wollen wir mal sehen, wie es mit deinem Pflichtbewusstsein aussieht. Marta schritt auf den Imbiss zu, und zwar so, dass der Fahrer eine recht komfortable Sicht auf ihre Rückseite hatte. Das klappt bestimmt nicht... Im Zweifelsfall musste das Manöver recht zügig durchgeführt werden.

Dabei war auch das Umfeld entscheidend, auf das Marta nun Acht gab. Eine eifersüchtige Zicke recht mir erstmal... Daher waren eventuelle Kunden, Personal und 'Verstecke' von Bedeutung. Und natürlich das Angebot.
 
Nun, der Fahrer, der gerade noch gelangweilt auf seinen Kaffee sah, blickte auf.

"Haben sie sich verlaufen?" fragte er freundlich.

Er kannte viele oder die meisten Geschichter hier in der Gegend, aber das Mädchen war ihm noch nie aufgefallen und sie wäre ihm auf jeden Fall aufgefallen, soviel stand fest.
 
Da sprach sie jemand an. Ohne Hast drehte sie sich in die Richtung. Und es war tatsächlich der Fahrer. Na also! Ein hinreißendes Lächeln im Gesicht kam sie etwas näher.

"Nein, eigentlich nicht. Ich weiß schon, wo hin hin muss... so ungefähr..."

Marta musterte den Herren noch einmal kurz, sah ihm dann in die Augen. Freundlich und mit einer Spur schlecht einzuordnender Neugier.
 
"Wenn sie mir sagen, wo sie genau hin müssen, dann kann ich ihnen vielleicht helfen", antwortete er mit einem Lächeln, das bestimmt auch nicht von schlechten Eltern war. "Ich kenne hier fast jedes Haus. Ich heiße übrigens Ricco und sie?"
 
"Ricco - alles klar! Ich bin Marta."

Man konnte meinen, die junge Frau taute etwas auf. Riccos Lächeln zeigte wohl Wirkung. Bei seinem Hilfsangebot schien sie zumindest etwas verlegen, unschlüssig, ob sie es auch annehmen konnte. Wie weit wirst du gehen?

"Das wäre nett, aber... es ist noch ein Stück... Ich werde schon hinkommen..."

Ganz so sicher wirkte sie aber nicht. Vielleicht wollte sie ihn auch bloß nicht von seinem Job abhalten. Oder schlicht und einfach nicht zugeben, dass sie den Weg verloren hatte.
 
"Na, ich habe im Moment noch etwas zeit, das geht vermutlich erst in einer Stunde wieder los, da kann ich sie gerne bringen, Marta, wenn sie keine Angst vor meiner Fahrkunst haben." Ricco lachte noch mal. "Und ich beisse auch nicht, versprochen ganz grosses Pfadfinder-ehrenwort."

Er legte die Hand aufs Herz zum Schwur, da konnte sie doch nicht widerstehen, er sah wirklich vertrauens erweckend aus.
 
Sah er tatsächlich und die Geste war ganz niedlich, Marta musste einfach mitlachen. Du beißt nicht - und ich überlege mir das noch...

"Wenn das so ist, ich bin einiges gewohnt. So leicht macht man mir da keine Angst... Es ist aber wirklich noch ein ganzes Stück... so Richtung Autobahn grob gesagt. Wenn es zu weit ist reicht notfalls auch eine Bushaltestelle, wo noch etwas kommt."

Die letzte Möglichkeit war natürlich kaum die favorisierte. Ricco konnte sich denken, dass er ihr einen Gefallen tat, wenn er die ganze Strecke auf sich nahm. Erwarten konnte sie es aber nicht. Komm schon!
 
Ricco würde ihr auf jeden Fall den Gefallen tun, wer konnte so einem netten Mädchen schon widerstehen.

"Toni, ich bin dann mal für eine Weile unterwegs, falls was ist, ruf mich an", rief er nach hinten in die Küche und dann wandte er sich an Marta.

"Na dann kommen sie mal, nach dem was hier in den letzten Tagen los war, werde ich keinen alleine hier laufen lassen, schon garnicht eine junge Frau", sagte er dann zzu ihr udn ging voran zu seinem Wagen, um ihr die Tür zu öffnen.
 
Marta war sichtlich dankbar, dass er sich die Zeit nahm, vielleicht sogar etwas erleichtert. Sie folgte ihm also zum Auto.

"Was ist denn passiert? Ist jemand überfallen worden? Oder zusammengeschlagen?"

Oder vergewaltigt... oder einfach verschwunden... Vielleicht kannte sie die Geschichte ja auch schon... Jedenfalls schien es Marta etwas mulmig zu sein, dass die Gegend wohl tatsächlich so gefährlich war. Ihrem Blick nach zu schließen, war sie froh jemanden gefunden zu haben, der sie heim bringen konnte.
 
"Naja, es sind einige Frauen in der letzten Zeit überfallen worden und teilweise sehr schwer verletzt und vergewaltigt worden und der oder die Täter sind noch nicht gefasst", erklärte Ricco während er den Wagen startete. "Hier ist schon immer viel passiert, aber es war selbst für die Gegend zuviel und ich fürchte, keiner traut sich zu reden."

Er fuhr los, in die Richtung, die sie ihm genannt hatte.
 
"Oh..."

Das war ich nicht bekannt gewesen, wie auch ihr 'Ich-hätte-vielleicht-doch-lieber-ein-Taxi-rufen-sollen'-Blick mitteilte. [Ob das wohl einer von uns war? Nicht auszuschließen nach den Ereignissen der letzten Tage. Eigentlich konnte es ihr auch nur gelegen kommen, wenn sich noch jemand bei der Jagd dumm angestellt hatte. Aber vielleicht sind es wirklich nur triebgesteuerte Idioten... Vampire sahen oft die Tätigkeit ihrer eigenen Art hinter alle möglichen Ereignissen. In der Realität war das wesentlich häufiger eine Fehleinschätzung als nicht. Aber eine Begegnung mit einem - oder schlimmer mehreren - Gewaltverbrechern wollte Marta dann schon lieber vermeiden.

"Naja, sie reden zumindest darübern, das ist ja schonmal ein Anfang. Und... es ist ja nichts passiert." Danke!

Eine Mischung aus säuerlichem Grinsen und erleichtertem Lächeln erschien in ihrem Gesicht, ihr war das Ganze sichtlich mulmig. Das hätte dir echt noch gefehlt... So aber konnte sie sich entspannen und auf die Strecke sowie den Fahrer konzentrieren. Du hast schon was... Das Ziel der Reise war natürlich nicht ihre Unterkunft sondern lag im Norden, mehr in Richtung Autobahn. Weit genug weg vom Ort ihres letzten Abenteuers doch in einer Gegend in der sie ihre Chancen auch nutzen durfte.
 
"Wohnen sie denn schon länger in der Gegend?" fragte Ricco dann. "Das ist eine etwas schwierige Gegend und sie sehen nicht so aus als ob sie hierher gehören würden."

Der Pizzafahrer schien sie wirklich nett zu finden.

"Ich wohne auch nicht hier, aber irgendwie muss man sich sein Studium verdienen und die Jobs für Studenten sind eben auch nicht so leicht zu haben."
 
"Nein, ich bin eher neu. Und hier wohnen... wohl eher nicht. Ich war eigentlich bloß auf der Durchreise, oder wie man das nennen möchte..."

War das gerade ein kleines Eingeständnis, dass sie vielleicht doch vom Weg abgekommen war? Nein, bestimmt nicht! Also im Moment... Marta schien sich vorerst darauf zu verlassen, dass er die richtige Hauptstraße fand. ...läuft es eigentlich ganz gut.

"Kann ich mir vorstellen. Was ist es denn für ein Studium?"
 
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