[13.10.2015] Am Rande

Drakun

Pflanze
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9. Juni 2007
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"Das ist so ein Schwachsinn!"

Marta wusste nicht ob sie lachen oder weinen sollte. Lachen auf Grund der nicht zu übersehenden Dummheit. Weinen, weil es der Author ohne Zeifel vollkommen ernst meinte. Stattdessen tat sie nichts dergleichen und reichte die rot-weiße Broschüre gleich wieder zurück zu Miriam. Wenn ich das Ding noch eine Sekunde länger halten muss, überlebt es das nicht. Die Lage war ernst. Der Feind hatte sich aus seinem Versteck gewagt, salonfähiger als je zuvor. Gerade jetzt, wo es am wenigsten gebraucht wurde, zogen 'besorgte Bürger' durch die Straßen und droschen die selben Hetzparolen wie zuvor. Diesmal jedoch fielen sie auf fruchtbaren Boden. Solange es schick gewesen war, als 'tolerant' zu gelten, konnten die meisten gar nicht oft genug erwähnen, wie sehr sie fremde Kulturen schätzten und andere Ansichten respektierten. Bis das alles plötzlich nicht mehr so weit weg ist. 'Das Volk' zeigte nun sein wahres Gesicht - und das war braun und stank.

"Wo hast du das her?"

Das Café war heute eher mäßig besucht, sodass die drei Frauen sich relativ ungestört unterhalten konnten. Liegt vielleicht an dem Mistwetter. Man konnte zumindest hoffen. Die Brünette nippte an ihrem Getränk, heiß und duftend. Genau das richtige für solche Nächte - vor allem, wenn man selbst keine Wärme erzeugte.
 
"Das hatte ich vorhin im Briefkasten", erwiderte Miriam. "Ich meine, die ganze Zeit hat jeder gesagt, es muss den Menschen dort geholfen werden und jetzt sin welche hier, so rund 5 bis 600, aber wenn ich die Nachrichten sehe, wird eine Stadt wie Finstertal, noch mindestens doppelt soviel aufnehmen müssen."

Sie trank einen Schluck.

"Weisst du, dass da hunderttausende von Menschen ins Land gekommen sind und es ist nichts wirklich vorbereitet."

Sie war sich nicht sicher, ob sie es gut oder schlecht finden sollte, das war deutlich zu merken.
 
Natürlich war nichts vorbereitet! Die neu wiedergewählte, konservative Stadtführung hatte sich kaum eingenistet und demonstrierte sofort wieder, warum sie die Mehrheit damals verloren hatte. Natürlich waren die Wähler vergesslich und pünktlich zur nächsten Krise hatten sie genau die Leute zurück, die sich vorher so inkompetent in Krisensituationen präsentiert hatten. Echt - was habt ihr eigentlich erwartet?

"Aber verteilt man dann nicht einen Aufruf zur Hilfe? Und nicht so ein Schmierblatt... 'Wir wehren uns gegen die Aufnahme Hilfsbedürftiger' - vor ein paar Jahren hätte sich das kaum jemand getraut!"

Vermutlich war sogar ein solcher auf dem Weg, doch wie so vieles anderes viel zu spät. Der rechte Rand war dem zuvor gekommen und impfte nun den Leuten ein, dass die Flüchtlinge ihnen bloß das Geld aus der Tasche ziehen wollten. Leider sogar mit gewissem Erfolg. Die reiben sich doch die Hände, dass die Menschen endlich ihrer Propaganda nachrennen, wie verängstigte Schafe!

"Es ist ja nicht so, als ob keiner wüsste, dass es Kriegsflüchtlinge sind..."

Aber vielleicht wussten sie auch einfach nicht, was das bedeutete. Wusste sie es überhaupt?
 
"Die Aufrufe zur Aufnahme von Flüchtlingen gab es auch, wurden auch überall verteilt", sagte sie. "Aber wie immer ist der rechte Sumpf schnell zur Hand, wenn es darum ging, ihre Schmierblätter drunter zu mischen, was dann nicht gut ankommt.

Ich denke, wir sollten möglichst schnell eine Solidaritätsdemo auf den Plan rufen, zeigen, daß die Menschen der Stadt nicht hinter der braunen Propaganda stehen."

Miriam seufzte.

"Hast du Verbindungen, daß wir da keinen Ärger kriegen?"
 
"So etwas sollte eigentlich kein Problem sein, solange man es ordentlich anmeldet - Stella dürfte sich da auskennen."

Für sie selbst gab es da gewisse... Hindernisse. Ansonsten habe ich auch Verbindungen, falls wir Ärger wollen... Nicht wirklich die beste Option, die Stimmung war so schon angespannt genug.

"Mit etwas Glück kann man es sogar so einrichten, dass dabei ein Großteil der Nazi abgeblockt wird."

Damit war es aber noch nicht getan. Die Ratten müssen zurück in ihre Löcher. Wo vor einem Jahr noch die Hoffnung bestand, sie würden sich vielleicht von selbst wieder verkriechen, sah es nun ganz und gar nicht danach aus. Zeit für aktivere Maßnahmen.
 
"Klar, Stella ist da bestimmt mit dabei", stimmt Miriam zu. "Die Frage ist nur, wie gehen wir es an, eher tagsüber oder abends, abends als Gegendemonstation gegen Pegida und Konsorten."

Ja, es war wirklich so, daß es immer schlimmer wurde und die Stimmen immer lauter und das durfte nicht so weiter laufen, das war Miriam klar.
 
"Abends - tagsüber haben die Leute zu tun und wer Zeit übrig hat, kann sich aktiv einbringen."

Wäre ja ironisch, wenn niemand hilft, weil alle ihre Solidarität bekunden. Das war auch ein weiteres Problem der 'besorgten Bürger' - viele handelten aus Angst vor Schwierigkeiten ohne dabei zu sehen, dass sie diese damit selbst verschärften. Gerade deshalb müssen sie aber irgendwie von der Straße.

"Weißt du wie es eigentlich am Bahnhof aussieht? Es soll ja tagsüber einige Probleme gegeben haben."
 
"Ja, es kam zu einigen kleineren Zusammenstössen, als die Asylsuchenden ankamen, weil ein paar unverbesserliche mit Flaschen werfen mussten", erwiderte sie. "Dann war aber auch die Verwaltung irgendwie falsch bei der Einschätzung der Anzahl, es wurde da wohl eine falsche Zahl übermittelt."
Sie zuckte die Schultern.
"Wir haben da ein paar leere Zimmer im Wohnheim geschaffen und Klaus ist gerade auch dabei anzumelden, daß wir die zur Verfügung stellen."
 
Sie nickte. Schön, dass es immer noch Leute gibt, die etwas tun. Und dabei war nicht das Werfen von Flaschen gemeint, dass bestenfalls hinderlich war.

"Was sagen die Studierenden dazu?"

Nicht jeder nahm Einschränkungen ohne weiteres hin, auch wenn diese dem allgemeinen Wohl galten.
 
"Na, einige sind sowieso nur übergangsweise im Wohnheim, bis sie eine andere Unterkunft gefunden haben und einige davon, sind selber aus anderen Ländern und von daher bereit, den Asylanten zu helfen, das geht schon", erwiderte Miriam. "Hoffen wir, daß das ganze nicht eskaliert, kommst du mit zu Stella, ich denke, die wird bestimmt bei den Helfern sein oder schon wieder das eine oder andere organisieren."
 
"Gut."

Marta leerte ihr Getränk. Als sie das Glas zurückstellte, schlich sich eine nachdenkliche Miene auf ihr Züge. Unterbewusst fuhr ihre Hand nach oben, richtete die Brille.

"Ich denke ich werde mir die Situation am Bahnhof anschauen. Ihr könnt ja mitkommen, wenn ihr wollt."
 
Miriam trank auch aus.
"Klar, das können wir mal machen, wobei da jetzt vermutlich nicht mehr viel zu sehen ist", erwiderte sie. "Aber in den nächsten Tagen werden noch mehr Menschen hier ankommen."
 
"Hoffen wir's. Es wird langsam spät und wäre ja schlimm, wenn sie noch jemanden dort gelassen hatten."

Außer die Unverbesserlichen, die sich natürlich jederzeit in ihr warmes Heim zurückziehen können. Sie winkte die Bedienung heran, die mit den drei nicht mehr ganz jungen Damen durchaus vertraut war. Was nun folgte, war schon fast ein Ritual. Ein kurzer verbaler Schlagabtausch, ein paar freundliche Worte und die Bedienung hatte ihr Geld. Die drei fanden sich vor der Tür wieder. Mistwetter - aber zum Glück ist es nicht weit.
 
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