[09.05.2008] Ein Blutsauger im Haus...

Renard

Blutsauger für Blutsauger
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13. Februar 2009
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Thürmer stand am Küchentisch. Vor ihm lag eine schon etwas abgegriffene, aufgeschlagene Bibel. Er warf einen kurzen Blick in Richtung Wohnzimmer, wo die Bewohner dieser Wohnung immer noch beinahe schon komatös auf dem Sofa lagen, umgeben von dem angesammelten Müll mehrerer Tage und inmitten ihrer eigenen Ausscheidungen. In Situationen wie diesen war er froh, daß er auf Gerüche wie diese nicht mehr wirklich ansprach... Unangenehm war ihm der ganze Dreck hier natürlich trotzdem. Von dem übergelaufenen Katzentoiletten, den Urinlachen in den Zimmern und den omnipräsenten Katzenexkrementen ganz zu schweigen !

Eigentlich hatte er ja nur eine Abkürzung nehmen wollen, aber das Geräusche eines auf- und zuklappenden Fensters hatte ihn dann doch veranlaßt nachzusehen, ob sich nicht eine Gelegenheit ergab, an Blut zu kommen, und er hatte Glück gehabt ! Seine wenig unrühmliche und langwierige Kletterpartie war unbemerkt geblieben, auf etwaige Zeugen hätte sie dann wohl auch eher belustigend gewirkt, aber schlußendlich hatte er es dann doch auf den Balkon im dritten Stock geschafft, wenn er auch gleich die ersten Tretminen aus Unachtsamkeit mitgenommen hatte. Der Lärm des laufenden Fernsehers hatte ihn dann auch zu dem Pärchen geführt, daß dieses Loch bewohnte: Vermutlich beide Rentner, Mitte bis Ende 60, abgehärmt und kränklich lagen beide auf dem Sofa, ohne sich des Zustandes ihrer Behausung bewußt zu sein. Ob das auch vorher schon so gewesen war, wußte Thürmer nicht, aber die Wohnung war voller Katzentoiletten, Kratzbäume und anderer Dinge. Anscheinend hatten sie sich aus Einsamkeit Katzen angeschafft, die vermutlich auch den Großteil ihres kümmerlichen Einkommens verbrauchten. Der Doktor hatte dann auch erst einmal den Fernseher abgeschaltet und den offenen Kühlschrank mit den langsam vor sich hin rottenden und teilweise auch schon angefressenen Lebensmiteln geschlossen und sich auf die Suche nach den Haustieren gemacht und diese dann in einem ähnlichen Zustand wie ihre Besitzer vorgefunden...

Vom Herren des Hauses hatte er sich dann auch nur soviel geholt, wie unbedingt nötig war. Dieses Glück hatten die Haustiere nicht gehabt:
Thürmer warf einen fragenden Blick auf die beiden Plastiktüten zu seinen Füßen. Hatte sich da nicht gerade etwas bewegt ? Er schüttelte den Kopf... Unmöglich ! Er hatte jeder der vier Katzen das Genick gebrochen und sie bis auf den letzten Tropfen geleert. Schnell und sauber.
Nach dieser Zeit dürften sie eigentlich auch nicht mehr zucken... Er beschloß daher, die Tüten lieber schneller als langsamer loszuwerden.
Ein letztes Mal sah er auf die aufgeschlagene Textpassage:

Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken hervor auf die Erde, und es wurde ihnen Gewalt gegeben, wie die Skorpionen der Erde Gewalt haben. Und es wurde ihnen gesagt, daß sie nicht beschädigen sollten das Gras der Erde, noch irgend etwas Grünes, noch irgend einen Baum, sondern die Menschen, welche nicht das Siegel Gottes an ihren Stirnen haben. Und es wurde ihnen gegeben, daß sie sie nicht töteten, sondern daß sie fünf Monate gequält würden; und ihre Qual war wie die Qual eines Skorpions, wenn er einen Menschen schlägt. Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und werden ihn nicht finden, und werden zu sterben begehren, und der Tod flieht vor ihnen. Und die Gestalten der Heuschrecken waren gleich zum Kampfe gerüsteten Pferden, und auf ihren Köpfen wie Kronen gleich Gold, und ihre Angesichter wie Menschenangesichter; und sie hatten Haare wie Weiberhaare, und ihre Zähne waren wie die der Löwen. Und sie hatten Panzer wie eiserne Panzer, und das Geräusch ihrer Flügel war wie das Geräusch von Wagen mit vielen Pferden, die in den Kampf laufen; und sie haben Schwänze gleich Skorpionen, und Stacheln, und ihre Gewalt ist in ihren Schwänzen, die Menschen fünf Monate zu beschädigen.

Er schloß das Buch, legte es behutsam an seinen Platz zurück und setzte sich auf den Balkon. Er betrachtete die bizarren Wolkenformationen, die einander über den Himmel zu jagen schienen und das Firmament selbst. Was kam wohl noch ? Dumpf erinnerte er sich daran, daß ein grüner Himmel in einem apokryphen Evangelium als Zeichen der Ankunft des Herren geschildert worden war... Er bezweifelte, daß dies alles Zufall war. Hatte sich der Hexer nicht anscheinend vielmehr in den Kopf gesetzt, den Allmächtigen und die Heilige Schrift zu verhöhnen und sich in seiner maßlosen Arroganz zum Herren über Leben und Tod in dieser Stadt aufzuschwingen ? Als Thürmer auf dem Balkon saß und über die Implikationen des bisher Geschehenen nachdachte, kam ihm ein weiterer Gedanke, den er bisher beiseitegeschoben hatte: Er erinnerte sich der Szene im Hovel und der Menschen im Haus hinter ihm. Vor allem seine Reaktion auf Richards Verhalten vorhin schlich sich langsam wieder in sein Innerstes und verlangte Antwort auf die eine Frage: War der Tod Estebans ihm wirklich derart egal ? War er nicht sogar froh gewesen, den Gangrel kaum gekannt zu haben, sodaß ihn diese Vorgänge derart unberührt ließen ?

War er schon derart verroht, wie er es damals den anderen immer vorgehalten hatte, die für solche und schlimmere Situationen immer nur dieselbe Antwort kannten ? "Wen kümmert's denn schon ?" hatten sie immer gesagt... Wenn es ihnen dreckig ging, wenn es wieder einmal einen von ihnen erwischt hatte... Es war ein Ausdruck der Frustration, der Hilflosigkeit, aber auch der Gleichgültigkeit und des Fatalismus gewesen. Er selbst hatte den Ausdruck nie leichtfertig verwendet, und dann auch nur auf sich selbst bezogen. War er nun soweit, daß andere ihm ebenso egal waren ? Würde er ebenso leicht über den Tod von anderen hinweggehen ?

Er wußte es nicht, und er hoffte, daß er es nie herausfinden würde, auch wenn er ahnte, daß er früher oder später Farbe würde bekennen müssen ! Er hatte sich damals gegen den einfachen Ausweg entschieden, und er hoffte inständig, daß er die Kraft finden würde, es wieder zu tun. Die Opfer der anderen durften nicht vergebens gewesen sein... !

Er knotete die Tüten zu und warf sie vom Balkon, dann kletterte er langsam und vorsichtig hinterher... Heute würde nicht mehr viel passieren, aber die nächsten Tage würden die Hölle werden ! Früher wäre er bestimmt schon lange verschwunden, Stadt und Leute sich selbst überlassend... Aber jetzt ? Er nahm sein Gepäck wieder auf, ebenso wie die Beutel mit den Tierkadavern. Nein ! Er würde nicht flüchten. Er hatte eine Rechnung zu zahlen, und das gedachte er, auch zu tun. Koste es was es wolle, dem blasphemischen Treiben des Hexers mußte ein Ende bereitet werden ! Und diesmal ein endgültiges.

Erneut sah er nach oben. Er konnte hier nicht viel tun, daß wußte er. Auch der Kampf heute hatte ihm das wieder einmal bildlich vor Augen geführt. Aber er wollte sein Scherflein beitragen und tun was er konnte. Und wenn das hieß, bis zum Äußersten zu gehen, dann war das eben so. Immerhin war er nur ein alter Nosferatu, für den sich grade weiter oben nur wenige interessierten.

Als er seinen Weg fortsetzte, verzog seine Miene sich zu einem ironischen Lächeln.
Wenn erst einmal alles vorbei ist..., dachte er, wen kümmerts dann schon, richtig ?
Leise verschwand er in den Schatten einer Seitengasse...
 
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