[05.05.2008]Blut und Tränen

Morticcia

Addams
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11. Mai 2006
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In der Küche roch es nach altem Kaffee, muffigen Tapeten und erkaltetem Zigarettenrauch. Vor etwa einer halben Stunde war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden und hatte einem recht klaren Sternenhimmel Platz gemacht. Verglichen mit der dichten Nebelsuppe des gestrigen Tages, war dies eine deutliche Verbesserung, fand die junge Anarche. Trotzdem blieb ihr Blick nicht lange nach draußen gerichtet. Jenny schlurfte stattdessen noch immer etwas schlaftrunken in den kleinen Raum und rieb sich die müden Augen. Sie war nur in einen knappen Slip und ein Top gekleidet, das ein wenig zu klein für sie zu sein schien. Der untere Rand des Oberteils endete etwas drei Finger breit über dem Bauchnabel. Der Träger hingegen, war mittlerweile derart ausgeleiert, dass sich ihr Busen nur schwerlich hinter dem bisschen Stoff verbergen konnte. Nicht das es sie in diesem Augenblick gekümmert hätte. Ebenso wenig wie die Reste eingetrockneten Blutes das sich in den Stoff gesogen hatte.

Ihre schweren Verletzungen an der Schulter hatte sie nur notdürftig verbunden. Das heißt, sie hatte Tim gebeten dies zu tun. Ja… Tim, …dies war seine Wohnung. Eine alte Bruchbude in einer der trostlosen Plattenbauten des Schwarzen Kamp. Sozialer Wohnungsbau, hieß es im Fachjargon der ach so sozialen Ämter. Ein Hohn dieses Wort Sozial, weder die Behörden noch dieser dreckige Betonbau hatten auch nur annähernd irgendetwas mit Sozial zu tun. Drecksbuden waren das, gesponsert von ebenso dreckigen Bürokraten! Hierher wurde das angebliche Geschmeiß der Gesellschaft abgeschoben. Aus den Augen, aus dem Sinn, oder wie war das? Wer an diesem Ort landete, den hatte dies angeblich so soziale Land längst aufgegeben und da es weder erlaubt, noch sehr zivilisiert war, den Dreck einfach am nächsten Baum aufzuknüpfen, stopfte man es, in Ermangelung einer besseren Idee, einfach in diese Massenhaltungs-Einheitsbauten und hoffte still, dass sie sich an Alkohol, Zigaretten und Drogen selbst zu Grunde richteten. Sechzig Quadratzentimeter für ein Huhn, vier Quadratmeter für einen Hund und zwölf Quadratmeter für einen ausgesonderten Menschen!

Jenny spie angewidert auf den Boden.
Menschen, Vampire, Werwölfe, sie alle versteckten sich hinter der scheinheiligen Maske einer zivilisierten Gemeinschaft, die am Ende keinen anderen Sinn hatte, als jene auszugrenzen, die eigentlich nur ein wenig anders waren. Was half es? Entweder man tanzte nach der Pfeife der großen Bosse oder man fand sich plötzlich irgendwo am Rand wieder, wo man erkennen musste, dass Gleich eben nicht immer auch Gleich bedeutete.
So in Gedanken versunken, setzte sich die überzeugte Anarche an den Küchentisch und begann sich eine Zigarette zu drehen.

Aber war sie wirklich besser als die anderen?
Gestern hatte sie sich nach dem blutigen Gemetzel auf dem Friedhof auf die Suche nach etwas zu Trinken gemacht. Die tiefen Einschnitte in ihrem Fleisch wollten einfach nicht heilen und es benötigte bereits eine gehörige Menge ihres eigenen Blutes dazu, die Wunde wenigstens soweit zu schließen, dass die lebensnotwendige, rote Flüssigkeit nicht sinnlos auf den Boden tropfte.
Die Aktion hatte sie also sehr viel Kraft gekostet.

Trotz des allgegenwärtigen Hungers hatten ihre Füße sie an diesen Ort geführt. Unterbewusst und ohne groß darüber nachzudenken. Als sie das Hochhaus erreichte, war es bereits kurz vor Sonnenaufgang und da sie bisher bei ihrer Jagd nach stärkendem Blut nicht sonderlich erfolgreich gewesen war, beschloss sie die Gier noch bis zum nächsten Abend zu ertragen. Wenn die Nacht sich erst dem Ende neigte, würde sie sowieso in einen todesähnlichen Schlaf fallen und keinerlei Not mehr verspüren. Das Erwachen würde mit Sicherheit - sie lächelte, als sie daran dachte wie recht sie mit dieser Sorge doch gehabt hatte - sehr qualvoll werden, aber über Gebühr durch die Straßen zu streifen, noch dazu in ihrem Zustand war mit Sicherheit nicht viel klüger.
Sie hatte eh keine Wahl!
Also hatte sie bei Tim geklingelt. Etwas verschämt kräuselte sie die Stirn, als sie sich daran erinnerte, dass sie vergessen hatte, wie ihr Ghul eigentlich mit Nachnamen hieß...
Irgendwann war ihr die Suche zu blöd und sie klingelte kurz entschlossen einfach mit der flachen Hand.

Die Zigarette war fertig und Jenny entzündete sie an einem Streichholz. Sie hasste diese Dinger! Wenn sich der Schwefel in einer kleinen Explosion entflammte, stieg immer auch ein leichter aber doch eindringlicher Panikanfall in ihr hoch.
„Fuchtinstinkt!“, hatte Cockrach es immer genannt, „Dagegen machste nix, mein Mädchen!“
Feuer hieß Tod und selbst sie kleinste Flamme erinnerte die meisten Kainiten spottend an das grauenhafte Ende, das es für sie bereit hielt. Sie konzentrierte sich wieder auf den gestrigen Abend mit Tim.

Er hatte sie entgegen seines sonst eigentlich so brutalen Gehabes, fast zärtlich umsorgt. Vorsichtig hatte er die Wunde mit warmem Wasser ausgewaschen, anschließend die klaffendsten Stellen mit beigen Nähgarn geschlossen und dann alles so gut er konnte mit etwas Verbandmull umwickelt. Als er geendet hatte, besah sich Jenny im Spiegel des Badezimmers. Die Arbeit ihres Ghuls war nicht weltbewegend, aber ausreichend. Sogar der alles verzehrende Schmerz hatte sich etwas gelegt und das wollte was heißen. Zufrieden hatte sie Tim zu sich gerufen und er hatte sie liebevoll von hinten umarmt. Zärtlich begann er damit ihren nackten Hals zu liebkosen. Ein auffallend ungewöhnliches Gebaren für diesen gefühlskalten Mistkerl, das die Caitiff am Ende aber nicht sehr verwunderte. Tim sehnte sich nicht nach ihrem Körper, es verlangte ihm nach der Macht ihrer Vitae. Seine zärtlichen Liebkosungen dienten alleine dem Werben um ihre Gunst. Er wollte ihr Blut! Er verhielt sich fast wie eine Katze und für einen Moment lang erwartete Jenny sogar fast, dass er zu schnurren begann. Sie hatte zu gelächelt und bemerkt, dass sie etwas Körperwärme und Liebe gut gebrauchen konnte. Er wusste welche Knöpfe er bei ihr zu drücken hatte, keine Frage! Wahrscheinlich war es alles andere als Klug zusätzliches Blut zu vergeuden.
Aber es erschien ihr irgendwie richtig.
Notwendig!

Stimmte das denn auch?

Jetzt mit etwas Abstand zum gestrigen Morgen und in der friedlichen Stille der schmuddeligen Küche, musste Jenny diese Frage verneinen. Der einzige Grund warum sie sich entschlossen hatte, das Bett, ihren Körper und auch ihr Blut mit Tim zu teilen war, dass sie sich dadurch an die Zeiten erinnerte, in denen sie noch am Leben war. Die Sehnsucht nach ihrem geliebten Mann hatte sie in die Arme des Ghuls getrieben und ihre Einsamkeit sie dazu gebracht, sich ihm vollständig hinzugeben.
Wie Armselig, …oder nicht? So viele Jahre waren vergangen. Sie hatte mehr als einmal bewiesen wie stark sie war. Stur und unbeirrbar folgte sie dem Weg, für den sie sich entschieden hatte. Der Errichtung einer freien Anarchenstadt, einem Ort an dem wirklich Jeder willkommen war und an dem absolute Freiheit nicht nur eine hohle Phrase war.
Jenny blies einige Rauchkringel in die Luft und entfernte einen vermeintlichen Tabakkrümmel von der Unterlippe. Als sie ihn wie beiläufig auf ihren Fingerspitzen betrachtete, nur Augenblicke bevor sie ihn endgültig weggeschnippte, fiel ihr auf, dass es sich gar nicht um etwas Derartiges handelte. Es war… geronnenes Blut.

Tims Blut!

Die junge Caitiff wischte sich emotionslos eine eigenwillige Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ihre Gier war beim Erwachen wie erwartet nicht zum aushalten gewesen. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut, denn schon einmal hatte sie einen Menschen, der ihr nahe gestanden hatte, auf eben diese Weise getötet. Ihren geliebten Mann. Und wie damals, brauchte es einige Augenblicke, bis sie sich an diesen Akt brutaler Gewalt erinnern konnte. Dies war also der Grund, warum die schrecklichen Schmerzen nachgelassen hatten. Sie hatte Blut im Überfluss gehabt und es benutzt sich damit ein weiteres bisschen zu heilen. Kein Hunger, keine Schmerzen, keine Gefühle. Dafür aber einen toten Freund im Nebenraum. Sie fühlte sich seltsam taub. Dieser Mensch, der derart von ihr abhängig war, dass er sich nicht für eine Sekunde gegen sie gewehrt hatte, war nun durch ihre Hand gestorben.
Mit starr geradeaus gerichtetem Blick drückte Jenny den Rest ihrer Selbstgedrehten auf der schmutzigen Tischplatte aus. Sie wusste nicht wie lange sie so dagesessen hatte, aber irgendwann brach sie in bittere, blutige Tränen aus. Schluchzte wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie weinte sich das ganze Gift von der Seele, das sie so lange gequält hatte. Nicht ein einziger Tropfen galt dem toten Ghul im Nebenraum, Jenny beweinte schluchzend und zutiefst erschüttert den Verlust ihres Mannes. Endlich, beinahe zehn Jahre zu spät, und trotzdem so reinigend für ihre gemarterte Seele.
 
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