Rezension Werewolf: The Forsaken [B!-Rezi]

Manny

Relikt
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Werewolf: The Forsaken


WoD2 Kernregelwerk


Werewolf: The Forsaken[/B] bildet die zweite Systemlinie in White Wolfs neuer World of Darkness. Die Änderungen zum „Vorgänger“ – der Begriff ist mit Vorsicht zu genießen – Werewolf: The Apocalypse sind fundamental und tragen das Spielkonzept in eine deutlich andere Richtung.

Worum geht es eigentlich? Die Spieler schlüpfen in die Rolle von Werwölfen; nicht (unbedingt) die Sorte, die sich bei Vollmond in einen Fellknäuel verwandeln und aus schutzlosen Bürgern 3D-Puzzles machen, sondern eher die Sorte von Werwolf, die die Gestaltwandlung unabhängig von Mondphasen und im Regelfall (meistens) völlig bewusst durchgehen, um ihre Pflichten zu erfüllen... oder unfreiwilligerweise, um aus Bürgern 3D-Puzzles zu machen. Diese Werwölfe sind teils Mensch, teils Wolf und teils Stoff teils Geist – im animistischen Sinn. Aber was diese Werwölfe besonders prägt ist ihr Aggressionsbewältigungsproblem: wenn die Geduldsfäden reißen, dann kann man schon Auge in Auge mit einem Berg aus Fell, Muskeln und riesigen Pranken gegenüberstehen.

Aber sehen wir uns einmal das Buch an. Das Werk wird – wie für Publikationen von White Wolf üblich – in Hardcover ausgeführt. Es hält sich farblich in Braun und bildet einen Wolfsschädel auf der Vorderseite ab. Neben dem Titel des Systems oben lässt sich „A Storytelling Game of Savage Fury“ am unteren Rand lesen. Unter dem Cover verbergen sich 317 dreifarbige Seiten.

Öffnet man die erste Seite, so gelangt man gleich zum achtseitigen, vollseitig illustrierten Prolog, der die erste Wandlung eines Max Mustermann illustriert. Beendet wird dieser Ausschnitt einer Geschichte übrigens im Epilog. Damit wird man gleich mit einem der Eckpfeiler und dem Feeling des Systems konfrontiert.

Mit Kapitel 1 – „The World of the Forsaken“ – wird der Spieler dann mit dem Hintergrund des Systems vertraut gemacht. Wer sind diese Werwölfe, was machen sie, was hat es mit dem Mythos auf sich; all das sind für Neueinsteiger sicher Fragen, die beantwortet werden wollen. Die Hintergründe drehen sich um Vater Wolf und Mutter Luna, dem Mord des ersteren und die Teilung der Lager in die Vatermörder, den „Forsaken“, sowie denen, die diesen Akt verdammen und ihre ehemaligen Brüder jagen, den „Pure“. Aber warum genau sind denn nun die Forsaken eigentlich Forsaken? Es hängt damit zusammen, dass Menschen instinktiv negativ auf Werwölfe reagieren, sie von Geistern verdammt werden und sogar Luna sie noch verflucht – etwas, das später nur teilweise aufgehoben wurde.

Das ist aber nur ein Teil auf der Liste der Dinge, mit denen sich unsere Werwölfe plagen müssen, schließlich gibt es noch das inkorporierte Konzept des Animismus. Widerspenstige und eigenartige Geister sind ein weiterer Dreh- und Angelpunkt ihres Daseins. Diese Geister sind manifestierte Ideen, Konzepte und Dinge mit einem nicht immer nachvollziehbarem Bewusstsein. Sie verkörpern das, was sie erschaffen hat; und sie tun das, was sie sind. Klingt einfach, ist es aber nicht immer.

Der Animismus in Werewolf: The Forsaken erschafft aber auch eine neue Sphäre, die Shadow Realms bzw. Spirit World, eine verzerrte Abbildung der Welt, in der besagte Geister leben. Das ist kein Ort zum Picknicken, unterstreicht aber das Konzept der Dualität zwischen beiden Welten: Dinge aus der einen Welt beeinflussen die andere, und die andere beeinflusst die eine. Serienmorde in einem dunklen Vierten Chicagos werden für ähnliche Tumulte in Form von blutlechzenden Geistern in der Schattenwelt sorgen; und diese werden ihrerseits für weitere Geschehnisse dieser Art sorgen, um sich von der Essenz zu ernähren.

Nun folgt, was stets Kapitel 2 in White Wolf Grundregelwerken einnimmt – „Character“. Der Inhalt beschreibt nun Schritt-für-Schritt die Erstellung eines neuen Werwolfes, aufbauend auf die Erschaffungsregeln für Menschen. Selbstverständlich werden die übernatürlichen Traits beschrieben, Primal Urge als Power-Attribut und Essence als „Zahlungsmittel“ sowie die neue Moral-Skala Harmony.

Die Erschaffungsregeln sind völlig unkompliziert, und jeder, der bereits in irgendeinem World of Darkness System jemals einen Charakter erschaffen hat, wird hier sicher keine Probleme haben. Nicht uninteressant ist aber, dass Werewolf: The Forsaken mehr auf den Aspekt „Gruppe“ setzt als in anderen Systemen; auch wenn es hin und wieder Ungereimtheiten gibt, Mitglieder eines Rudels halten zusammen. Und noch viel interessanter: Rudel verfolgen in der Regel auch eine Wolfshierarchie, vom Alpha- bis zum Gammatier.

Als Achsen hat hier White Wolf wieder auf ein 5×5-Schema gesetzt. Einerseits gibt es das Vorzeichen, also die Mondphase, unter der der Werwolf die erste Wandlung unterging, andererseits gibt es noch fünf Stämme, die je einem der ursprünglichen „Forsaken“ folgen. Natürlich gibt es im letzteren Fall noch die Möglichkeit ein stammloser Geisterwolf zu sein, allerdings werden die nicht überall gerne gesehen.

Werewolf: The Forsaken bietet aber für die einzelnen Vorzeichen nicht die üblichen paar Seiten an Informationen und Details, sondern belässt es meistens mit je ein paar Paragraphen im Fließtext. Das tut dem Kapitel aber keinen Abbruch, offenbar gibt es einfach nicht viel mehr dazu zu sagen. Es scheinen aber stärker bestimmte Rollen für bestimmte Vorzeichen impliziert zu werden, das fällt im direkten Vergleich mit beispielsweise Vampire: The Requiem oder Mage: The Awakening schnell auf.

Das Kapitel ist aber auch die Heimat der Gaben und Riten, die Uratha – also Werwölfe – einsetzen können, wenn man sie gelehrt wurde. Anders als in den übrigen White Wolf Systemen müssen Gaben aber nicht in Reihenfolge gelernt werden; eine „Stufe 4“-Gabe kann gelernt werden, ohne dass die vorherigen drei jemals erworben worden sind. Dafür haben sie mitunter hohe Anforderungen an die fünf Renown-Traits, die Charakteristika eines Werwolfes wiederspiegeln sollten: Cunning, Glory, Honor, Purity und Wisdom.

Mit Kapitel 3 – „Special Rules and Systems“ – wird dem geneigten Spieler erklärt, warum Werwölfe richtig hart zu kackende Nüsse sind. Einerseits haben sie einen Metabolismus, der ihre Regeneration signifikant beschleunigt; das sollte man spätestens bei freundlichen Schlägereien in Bars merken. Knochen gebrochen, Milchzähne poliert bekommen? Werwölfe heilen das in Rekordgeschwindigkeit weg. Aber auch Werwölfe haben eine Achilles-Sehne: Silber. Mechanisch verursacht Silber nämlich schwer heilbaren Schaden, i.e. aggravated damage, die schmerzhafteste Form im Schadenssystem der World of Darkness. Dennoch machen Pure und Forsaken selten mit Silber Jagd aufeinander (oder untereinander); es ist eine der schwereren Sünden auf der Moral-Skala.

Werwölfe können aber auch ihre Gestalt wandeln – wo sie wollen, wann sie wollen, wie sie wollen. Die Palette enthält fünf mögliche Formen, vom Menschen über zwei Meter hohe Kampfbestien bis hin zum Wolf. Aber ich habe gelogen: die mittlere Kriegsform kann nur einmal pro Szene angenommen werden, und sie hält nur relativ kurz. Und sie sollten ihre Form nicht in der Öffentlichkeit ändern, Lunacy ist eine der Mechaniken, der dafür sorgt, dass Werwölfe nicht ganz so schnell auf der Frontseite der Tageszeitung landen. Nicht ganz unähnlich zu Disbelief aus Mage: The Awakening sorgt Lunacy dafür, dass willensschwache Zuseher in ungläubige Panik geraten und rationale Erklärungen erfinden.

Uratha haben aber auch ein kleines Problem mit der Bändigung ihrer Wut. Provoziert man sie zu stark, nehmen sie automatisch die Kriegsgestalt an und mähen jeden nieder, der gerade zu nahe am Geschehen steht – ob Freund oder Feind ist unerheblich. Kassieren sie zuviel Schaden, flüchten sie in der Kampfform und schieben jeden aus den Weg, der sich zwischen dem Werwolf und dem Fluchtweg stellt. Die Mechaniken erinnern stark an die Raserei-Regeln von Vampire: The Requiem; nur dass Werwölfe deutlich bestialischer in ihrer Kriegsgestalt sind und richtig böse zuhauen können.

Das Kapitel behandelt aber auch noch andere Punkte, von Totems über Fetische (nicht diese Art von Fetische) bis hin zu speziellen Stämmen; allesamt Aspekte, die das ungebändigte Leben eines Uratha schwerer als auch leichter machen können, aber auf jeden Fall etwas mehr Detail in das Gesamtkonzept des Systems bringen.

Kapitel 4 – „Storytelling and Antagonists“ – kompiliert wieder Informationsmaterial für angehende Erzähler und ein paar vorab ausgearbeitete Antagonisten unterschiedlicher Arten. Mehr gibt es eigentlich nicht zu diesem 35 Seiten leichten Kapitel zu sagen; Besitzer anderer Grundregelwerke der World of Darkness wissen schon, aus welchem Holz es geschnitzt ist. Und für absolute Neulinge fällt es mir schwer eine inhaltliche Zusammenfassung außer „des Erzählers Propädeutikum“ zu liefern.

Was ich aber zu diesem Kapitel sagen kann: angehenden Erzählern, die mit irgendeinem Werewolf-Titel bisher noch nichts am Hut hatten, werden hier nur begrenzt bedient. Viele Details oder ungewöhnlichere Fragestellungen werden erst in den jeweiligen Supplements erläutert. Selbst der folgende Appendix 1 – „The Spirit World“ – kann nur bedingt hilfreich sein, wenn es beispielsweise um Informationen über die Schattenwelt geht. Hier lege ich geneigten Spielern sowie Erzählern an das Herz mindestens eines der beiden Supplements unter die Lupe zu nehmen: Book of Spirits aus der World of Darkness Kernlinie als generelle Beleuchtung der Schattenwelt und/oder Predators aus der Werewolf: The Forsaken Linie, weil es eine gute Mischung zwischen Informationsquelle und einem umfangreichen Bestiarium für den Erzähler bildet. Eine Liste an Buchempfehlungen zum Weiterlesen folgt in Kürze.

Appendix 2 – „The Rockies“ – ist das obligatorische, rudimentär ausgearbeitete Beispielsetting in den Rocky Mountains. Der Anhang wiegt nur 22 Seiten und dürfte damit noch etwas Handarbeit benötigen, bevor man wirklich etwas damit anfangen kann. Trotzdem ist das Kapitel nicht nutzlos, die Beispielcharaktere und -rudel lassen sich durchaus noch für eigene Abenteuer missbrauchen. Und es gibt sicher noch die eine oder andere Idee, die sich recyclen lässt.

Damit endet der eigentliche Inhalt des Buches; es folgen nur noch Epilog, der Index, ein zweiseitiges Charakterblatt sowie Werbung für White Wolfs offiziellem Fanclub, die Camarilla.

Das Setting hat allerdings einiges an Potential. Es versucht das Öko-Krieger-Klischee von Werewolf: The Apocalypse abzuschütteln und versucht sich in ein neues Gewand zu hüllen. Auch wenn ich das alte System nur vom Hörensagen kenne, es überzeugt und ich kann mir nicht vorstellen, dass Werewolf: The Apocalypse einem direkten Vergleich bezüglich meiner Sympathie standhalten könnte, würde ich mich in das alte System einarbeiten wollen.

Trotzdem wird geneigten Erzählern und Spielern an das Herz gelegt das Bücherregal noch weiter aufzustocken, einige Themen kommen meiner Meinung nach leider zu kurz. Meine persönlichen Empfehlungen sind (auch wenn die Cover teilweise etwas abschreckend wirken):
·Book of Spirits (World of Darkness) – ein Supplement, das sich mit dem Shadow Realm genauer beschäftigt, auch aus der Sichtweise von Nicht-Werwölfen,
·Predators (Werewolf: The Forsaken) – eine gute Mischung zwischen Bestiarium und Spirits 101.
·Blood of the Wolf (Werewolf: The Forsaken) – beschäftigt sich näher mit der Physiologie und dem eigenartigen Metabolismus von Werwölfen.
·Lore of the Forsaken (Werewolf: The Forsaken) – greift einige bekannte Aspekte auf, von Totems über Fetische bis hin zu einer detaillierteren Ausarbeitung über die einzelnen Vorzeichen.

Das System als solches inklusive einiger Supplements dürfte mühelos 4 von 5 Punkten abkassieren. Als einziges Hilfsmittel ist das Grundregelwerk selbst für mich aber streckenweise zu ungenau und verliert einen viertel Punkt. Mit 3¾ Punkten kann es sich aber dennoch sehen lassen.Den Artikel im Blog lesen
 
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